Diagnostische Methoden I: Verhaltensbeobachtung in der Schule (Grundlagen, Arten der Beobachtung, Beobachtungssysteme, Beobachtungsfehler)
5. Beispiele für Beobachtungssysteme zur Erfassung des Sozial- und Persönlichkeitsbereichs
5.1 Zeichensysteme zur Erfassung von Sozial- und Persönlichkeitsvariablen im Unterricht
Hier wird ein neues Verfahren als tragendes Beispiel vorgestellt, das in einem Anwendungsbereich liegt, der offensichtlich in den letzten Jahren auf zunehmendes Interesse gestoßen ist, nämlich das „Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS)“ von A. Wettstein (2008 a/b). Es wird vom Verlag als Mappe mit Manual, Kategorienheft, 2 CDs zum Beobachtertraining und Auswertung und dem Plakat „erwünschtes Zielverhalten“ angeboten. Ein solches Komplettangebot ist notabene rar. – Ein Zeichensystem liegt vor, weil nur die aggressiven Verhaltensweisen im Unterricht erfasst werden.
Das BASYS ist zweigeteilt und besteht aus der „Version Lehrkräfte“ sowie aus der „Version Fremdbeobachter“. Die Version Lehrkräfte soll nach Einführung durch Text, Beispiele und Bilder die anwendenden Lehrkräfte befähigen, die Beobachtung ihrer Schülerinnen und Schüler selbst vorzunehmen. Dazu sind folgende 8 Kategorien des aggressiven Schüler-verhaltens aufgestellt und beschrieben (Wettstein, 2008a):
- „Oppositionelles Verhalten gegen die Lehrkraft“ (Beispiele: „Verweigern, dazwischenschreien, brüllen, trotzen, sich einfachen Regeln widersetzen, die Schuld auf andere schieben.“)
- „Aktiv gegen Fremdperson, offen-direkt“ (Beispiele: „Verbal: Drohen, beschimpfen, beleidigen, Halsabschneidegeste, anschreien, anbrüllen, drohen, einschüchtern, Geste des Erschießens. Körperlich: Schlag andeuten, boxen, treten, schlagen, stoßen, beißen, kratzen, anspucken, wegdrängen, wegziehen, an Haaren und Ohren ziehen.“)
- „Aktiv gegen Fremdperson, verdeckt-hinterhältig“ (Beispiele: „Verbal: Falsche Anschuldigungen machen, Gerücht verbreiten. Körperlich: Dem Gesprächspartner die kalte Schulter zeigen, Gegenstand stehlen bzw. verstecken, demonstrativ gezeigte körperliche Distanz.“)
- „Aggression gegen Gegenstände“ (Beispiele: „Verbal: Beschimpfen und Verfluchen von Gegenständen. Körperlich: Tür zuknallen, Blatt zerreißen, Stifte zerbrechen, gegen einen Stuhl treten, Pultdeckel zerkratzen, Wand beschmieren, Papierkorb im Schulzimmer herumkicken, Sachen durch die Luft werfen.“)
- „Partei ergreifen gegen Fremdperson; offen-direkt“ (Beispiele: „Verbal: Höhnisches Auslachen oder Herabsetzen des Opfers, Anfeuern des Täters. Körperlich: Den am Boden liegenden Schüler boxen oder treten, einem Konfliktpartner die Faust in den Rücken schlagen.“)
- „Partei ergreifen gegen Fremdperson; verdeckt-hinterhältig“ (Beispiele: „Verbal: Verstecktes Grinsen, scheinheilig grinsend nachfragen: „Tut es weh?“ „Weinst du?“. Körperlich: Sich feixend hin zu Mitschülern orientieren, verdeckte Tritte und Schläge.“)
- „Unkodierbar: Restkategorie.“ „Verhalten, das für die Lehrkraft eine starke Belastung darstellt, aber keiner der Kategorien 1 bis 6 zugeordnet werden kann.“
- „Unkodierbar: Unsichtbar.“ Hiermit sind Verhaltensweisen gemeint, die von der Lehrkraft nicht klar erkennbar sind, jedoch als aggressiv eingestuft werden können.
Illustrationsbeispiel für "aktiv gegen Fremdperson; offen-direkt"
(Bild und Text aus Wettstein 2008a, S. 38)
Illustrationsbeispiel für "aktiv gegen Fremdperson; verdeckt-hinterhältig" (Bild und Text (gekürzt) aus Wettstein 2008a, S. 38)
Abbildung 7.1: Illustrationsbeispiele aus "BASYS". Wettstein 2008a. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber, Bern. Copyright © Hans Huber Verlag Hogrefe AG. Bezugsquelle: www.testzentrale.de.
Die Anwendung wird erst nach einer gründlichen Einarbeitung empfohlen und soll zu festgelegten Zeitintervallen geschehen, z.B. zwei Wochen lang täglich an zwei fixierten Unterrichtsstunden. Es wird ein Beobachtungsbogen mit allen 8 Kategorien und der jeweiligen Aufteilung "verbal, Mischform, körperlich" angeboten. Die Namen der jeweiligen Schüler werden auch festgehalten. Die Auswertung, erleichtert durch ein Dateneingabe-Programm, erfolgt für einzelne Schüler oder für die ganze Klasse. Im Manual werden Interventionsmöglichkeiten skizziert und empfohlen, nach dem A-B-A-B-Design zu verfahren: Eine Woche Beobachtung, ohne dass Intervention durchgeführt wird (=Grundrate), eine Woche Beobachtung während Intervention durchgeführt wird, dann wieder eine Woche Beobachtung ohne Intervention und noch einmal eine Woche Beobachtung während Intervention durchgeführt wird.
Der zweite Teil des BASYS ist der für Fremdbeobachter, also Teamlehrkräfte, Praktikanten, Berater... Dabei werden dieselben 8 Kategorien verwendet, aber ergänzt durch Unterrichtliches Setting (7 Möglichkeiten), Funktion für die Schüler (7 Möglichkeiten, z.B. Abwehr, Überforderung...) und Reaktion der Lehrkraft (5 Möglichkeiten, z.B. neutral, strafandrohend…). Damit können noch Zusatzinformationen gewonnen werden.
Die Gütekriterien sind bisher insbesondere unter einem speziellen Aspekt erforscht: Lehrkraft und Fremdbeobachter wenden beide das BASYS an und verwenden auch Videoaufnahmen zur Kodierung. Wettstein ermittelte dabei die „Detektionsrate“, also den Prozentsatz der richtig kodierten Ereignisse. In seinem Tabellenbeispiel (2008, S. 94) gibt er für die Lehrkraft 82 % Treffer an (also richtige Kodierungen), für den Fremdbeobachter 92 %. Das sind in beiden Fällen hohe Ergebnisse, wobei uns jedoch nicht ganz klar wurde, wie repräsentativ diese Ergebnisse für das Verfahren im Ganzen sind und wie eigentlich die für die Prozentangabe absolute Richtigkeit der Kodierungen ermittelt wurde. Das Verfahren erscheint dennoch in all seiner Differenzierung, die hier gar nicht vollständig wiedergegeben werden konnte, als lohnenswert. Es ist offenbar teilweise orientiert an dem älteren und bekannten, für das zum thematisch ebenfalls einschlägigen Konstanzer Lehrertraining (Neuauflage bzw. Kurzfassung Humpert & Dann, 2001) entwickelten „Beobachtungsverfahren zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht“ (BAVIS) (Humpert & Dann, 1988), in derselben Verlagsgemeinschaft erschienen, und löst dieses wohl ab.