Diagnostische Methoden I: Verhaltensbeobachtung in der Schule (Grundlagen, Arten der Beobachtung, Beobachtungssysteme, Beobachtungsfehler)

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Buch: Diagnostische Methoden I: Verhaltensbeobachtung in der Schule (Grundlagen, Arten der Beobachtung, Beobachtungssysteme, Beobachtungsfehler)
Gedruckt von: Gast
Datum: Donnerstag, 2. Mai 2024, 08:23

Inhaltsverzeichnis

Hans-Peter Trolldenier, Würzburg, unter Beteiligung von Karin Schweizer, Nürnberg - Diagnostische Methoden I: Verhaltensbeobachtung in der Schule (Grundlagen, Arten der Beobachtung, Beobachtungssysteme, Beobachtungsfehler)

Ziele

Die genannten diagnostischen Methoden kennen und verstehen, ihre jeweiligen Stärken und Schwächen und Probleme bei der Anwendung beurteilen können, die passende Methode für die jeweilige Fragestellung auswählen und begründen können, die Ergebnisse des jeweiligen Verfahrens sinnvoll interpretieren können.

1. Einführung

Hinweis: Begriffe, die unterstrichen sind, werden im Glossar erklärt. Das Wort Schüler gilt zur Verbesserung der Lesbarkeit hier für die männliche und weibliche Fassung gleicher-maßen, ebenso bei Lehrer und Erzieher.

Bei einer Betrachtung der 12 Lehreinheiten unseres Moduls zur Pädagogisch-psychologischen Diagnostik und Evaluation wird den Ihnen auffallen, dass zwar die am häufigsten vorkommende diagnostische Grundmethode der psychologische Test ist, dass es aber auch andere gibt. Lehramtsstudierende im Praktikum werden aufgefordert, die Schüler zu beobachten, wissen aber nicht immer, was sie da tun sollen. Da könnte es z.B. möglich sein, den Schüler Eddy ins Visier zu nehmen, der sich offensichtlich bei der Mitarbeit schwer tut und mit einem dreifach gegliederten Verfahren diese Mitarbeit festzuhalten. Für jede einzelne Verhaltensweise kann man dann einen Strich setzen. Zu einer einfachen Auswertung kann man die Aufzeichnungsergebnisse für einen anderen Schüler, der von einem Kollegen beobachtet wurde, vergleichen. Das führt zu Ergebnissen, die exakter sind, als der bloße Eindruck beim Zuschauen (Fortsetzung des Beispiels in Unterkap. 3.2).

Somit kommt die Verhaltensbeobachtung ins Spiel, weil doch auch vieles, das im unterrichtlichen oder noch breiteren pädagogischen Feld von diagnostischem Interesse ist, das unmittelbare Verhalten der beteiligten Personen betrifft, das sich einer Untersuchung durch Tests verschließt. Insofern ist nach Lukesch (1998) die Verhaltensbeobachtung als Ergänzung zur Anwendung von Tests zu sehen. Mit ihrer Hilfe kann vieles festgestellt werden, was sonst nicht möglich wäre, auch nicht durch diagnostische Gespräche (s. Lehreinheit 8). Allerdings muss vor einem unreflektierten Einsatz der Verhaltensbeobachtung gewarnt werden. So meint Graumann (1974, S. 525): " ... zumindest glaubt jeder, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, dass er damit auch der Beobachtung fähig ist. Doch ohne zu wissen, was, wo und wann zu beobachten ist, hockt man ebenso als selbsternannter Tierbeobachter im Wald herum, wie man sich ungeschult in der Klasse oder sonstwo als Verhaltensbeobachter versucht."

2. Inhalt und Arten der Verhaltensbeobachtung

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2.1 Inhalt von Verhaltensbeobachtung

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2.2 Naive vs. systematische Beobachtung

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2.3 Teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung

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2.4 Offene vs. verdeckte Beobachtung

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2.5 Technisch vermittelte vs. unvermittelte Beobachtung

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2.6 Kontinuierliche vs. diskontinuierliche Beobachtung

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2.7 Live- (bzw. Feld-) vs. Laborbeobachtung

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3. Überblick über Beobachtungssysteme

Da es in dieser Lehreinheit nur über systematische Verhaltensbeobachtung gehen kann, müssen wir uns zuerst mit den grundlegenden Methoden der Verhaltensbeobachtung beschäftigen und diese voneinander unterscheiden. Anschließend wird eine Trennung nach den beiden zentralen diagnostischen und gleichzeitig schulischen Anwendungsbereichen vorgenommen, nämlich nach Sozialverhalten und Leistungsverhalten.

3.1 Grundlegende Gedanken zur Verhaltensbeobachtung

Bei Strunz (2003) werden neben der „isomorphe[n] Deskription“, also einer Komplettmitschrift des Verhaltens (ausgebaut bei Mees, 1977, S. 17/18), zunächst die Zeichen- und Kategoriensysteme (zusammengefasst) und dann die Rating- oder Einschätz-skalen aufgeführt. Diese Einteilung entspricht der von Cranach und Frenz (1969) und ist bei Faßnacht (1995) deutlich differenzierter gehalten. Für unsere Zwecke können wir aber beim Vorschlag von Strunz bleiben, da die im Unterrichts- und Erziehungsbereich vorkommenden Verfahren sich dabei sinnvoll zuordnen lassen, insbesondere dann, wenn man Zeichen- und Kategoriensysteme trotz vorhandener Gemeinsamkeiten aber doch unterscheidet. Das soll im Folgenden also geschehen.

Auch die Verfahren zur Verhaltensbeobachtung müssen unter Anwendung der psychologischen Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität (s. Lehreinheit 4), wie andere Methoden auch begutachtet werden, auch wenn die Gütekriterien hier meist nicht so differenziert zum Tragen kommen, wie das bei Testverfahren der Fall ist.

3.2 Zeichensysteme zur Verhaltensbeobachtung

Der Begriff „sign system“ ist wohl von Medley und Mitzel in einem Beitrag zum „Handbook of Research on Teaching“ 1963 eingeführt, im Deutschen meist als „Zeichensystem“ verwendet. Die Übersetzung als Merkmalsystem hat sich dagegen kaum durchgesetzt (alles zit. nach Trolldenier, 1985).

Die Anzahl von Zeichen pro System ist in der Literatur unterschiedlich und schwankt zwischen 1 und 70; meist sind es jedoch wenige, oft unter 10.

Bei einem Zeichensystem zur Verhaltensbeobachtung sind drei Dinge möglich:
  1. Die Zeichen können sich gegenseitig überlappen und damit könnte ein einzelnes Verhalten mehrmals kodiert werden (Problem!).
  2. Zeichensysteme können ad hoc erstellt werden und nur recht lose an einer Theorie orientiert sein.
  3. Es ist möglich, dass die im System enthaltenen Zeichen zusammen nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtverhaltens repräsentieren. Die Erfassung des festgelegten Verhaltens(ausschnitts) geschieht nach Forschungs- oder Praxiszwecken.

Der Beobachter signiert also bei seiner Tätigkeit dann, wenn die festgelegten Verhaltensweisen auftauchen; wenn er andere bemerkt, signiert er nichts. Ein solches Zeichen kann ein Buchstabe sein oder auch eine Zahl. Vom Ablauf her kann auch in entsprechende Kästchen, die für jedes Zeichen stehen, ein Auszählungsstrich gemacht werden. Dann wäre allerdings keinerlei Abfolge festgehalten. Der Gesamtrahmen an Verhaltensweisen wird beim Zeichensystem nicht ermittelt, sondern eben nur ein Ausschnitt, der vorher festgelegt war.

Das fiktive Beispiel der Einleitung wird jetzt wieder aufgegriffen: Eddy steht im Mittelpunkt der Beobachtung und seine zu beobachtenden Verhaltensweisen können in drei Gruppen aufgeteilt und mit bestimmten Symbolen versehen werden:

Tabelle 7.1: Zu beobachtende Verhaltensweisen des Schülers Eddy.

Gruppe

Symbol

erwünschte, stille unterrichtsrelevante Mitarbeit (z.B. rechnet die angegebenen Aufgaben)

+

lautes, vom Unterricht ablenkendes Verhalten (ruft nicht dazugehörende Sätze)

O

äußerlich gut erkennbare Zeichen der Beteiligung (meldet sich)

!

Für jedes Auftreten einer dieser Verhaltensweisen wird das entsprechende Symbol +, O oder ! gesetzt. Am Ende der Unterrichtsstunde werden für jede der drei Gruppen die Symbole zusammengezählt. Das wäre also ein Zeichensystem, ad hoc entstanden, die Verhaltensweisen nicht völlig überschneidungsfrei und im Ganzen nur einen Teil des Gesamtverhaltens betreffend. Es ermöglicht eine Charakterisierung des Verhaltens von Eddy im Unterricht.

Im Sinne der in der Psychologie vorgenommenen Unterscheidung nach grundlegenden Skalentypen bei Messvorgängen (s. Lehreinheit 5) kann man das Zeichensystem als Nominalskala sehen. Jede mit einem Zeichen belegte Verhaltensweise ist eine ebenbürtige Qualität für sich, die erkannt und zugeordnet wird.

3.3 Kategoriensysteme zur Verhaltensbeobachtung

Rein von der Sprachbedeutung her lässt sich zwischen diesem und dem vorigen Unterkapitel kein Unterschied ausmachen, weil man den Kategorienbegriff in beiden Fällen anwenden könnte. Gleich ist auch der Ablauf der Beobachtung: Der Beobachter signiert in den vorher definierten Begriffen das Auftreten der einzelnen Verhaltensweisen. Auch hier haben wir es mit Nominalskalen zu tun: Die Kategorien sind einander ebenbürtige Qualitäten, welche von dem Beobachter jeder einzelnen Verhaltensweise zugeordnet werden muss.

Der Unterschied zu den Zeichensystemen ist im Grunde reine Konvention, die aber eindeutig festgelegt ist. Hauptunterschied: Das Kategoriensystem ist das vollständigere und häufig auch anspruchsvollere von beiden.

Beim Kategoriensystem zur Verhaltensbeobachtung

  1. kann jede vorkommende Verhaltensweise eindeutig einer Kategorie zugeordnet werden. Es gibt keine Überlappungen.
  2. wird jede erkennbare Verhaltensweise erfasst und zwar nur einmal.
  3. steht in aller Regel ein theoretischer Hintergrund zur Verfügung. Es kann für Forschungs- oder für praktische Zielsetzungen angewendet werden.

Es wird also klar, dass kein unbearbeiteter Rest von Verhaltensweise übrig bleibt. Mit der Signierung durch ein Kategoriensystem wird ein komplettes Abbild gespiegelt. Man kann sich gut vorstellen, dass die Beobachter bei einem solchermaßen anspruchsvollen Verfahren gründlich geschult werden müssen und dass die Livebeobachtung hohe Anforderungen stellt.

Tabelle 7.2: Kategoriensysteme zur Verhaltensbeobachtung am Beispiel des Schülers Eddy.

Kategoriebezeichnung

Kodierung

- aktiver Unterrichtsbeitrag (meldet sich, klärt das anstehende Problem)

(aU)

- reaktiver Unterrichtsbeitrag (führt Auftrag aus, schreibt oder zeichnet)

(rU)

- erwünschtes Sozialverhalten (hilft dem Nachbarn)

(eS)

- unerwünschtes Sozialverhalten (ärgert einen Mitschüler / desinteressiert aber still)

(uS)

Das Beispiel ist jetzt etwas stärker ausgebaut. Es gibt keine Überschneidungen und es kann jedes Verhalten kodiert werden. Also haben wir hier ein Kategoriensystem.

3.4 Einschätz- oder Ratingskalen zur Verhaltensbeobachtung

Mit einem Hinweis auf die Beurteilungspraxis im Beruf, die sowohl die von Lehrkräften durch die Schulbehörde als auch die von Schülern durch Lehrkräfte sein könnte, schreibt Hasemann (1983, S. 454): „Beurteilungen, wie sie etwa im Wirtschaftsleben oder im Öffentlichen Dienst ständig abgegeben werden, basieren auf der unsystematischen, unregelmäßigen Beobachtung von Verhalten im Dienst über einen längeren Zeitraum hinweg. Diese Art der Beurteilung vollzieht sich unausgesprochen ständig und wird zu besonderen Anlässen (Beförderung, Versetzung, Ablauf der Probezeit usw.) auch formuliert, jedoch keineswegs immer in schriftlicher Form. In dieser Weise vorgenommen, sind Beurteilungen als Niederschlag von Verhaltensbeobachtung unvollständig, in keiner Weise miteinander vergleichbar, und ebenso wenig systematisch auswertbar oder als Grundlage für einer der individuellen Persönlichkeit hinlänglich gerecht werdenden Charakterisierung brauchbar.“

Zur Verbesserung der Lage wurden Ratingskalen (hier auch Beurteilungsskalen) für verschiedenste Zwecke entwickelt, die wegen ihrer leichten Handhabbarkeit sehr beliebt wurden. Für die Verhaltensbeobachtung kommen vor allem zwei Anwendungstypen in Frage, bei Hasemann (1983, S. 454) folgendermaßen benannt: „Numerische Skalen sind solche Skalen, bei denen das Urteil über den Ausprägungsgrad eines Merkmals in Ziffern festgelegt wird.“ Es gibt Ratingskalen mit einer gradzahligen Anzahl von Skalenpunkten, meist 4 oder 6 oder mit ungradzahligen, meist 5 oder 7. Die gradzahligen Skalen zwingen den Anwender stärker zu Entscheidungen, die ungradzahligen bieten sich an, wenn die Skala in der Mitte einen Nullpunkt hat, im positiven Bereich ein bestimmtes Verhalten aufgespannt ist und im negativen dessen Gegenteil. Hasemann meint, dass in dem Fall, in dem die Punkte nicht mit z.B. „mittel“, „leicht“, „hoch“, sondern mit Ziffern einer Rangreihe, wie 1, 2, 3 angegeben sind, die Intervalle zwischen den Punkten gleich sind. Dann hätten wir also eine Intervallskala, ansonsten eine Rangskala (zu den grundlegenden Skalentypen in der Psychologie s. Lehreinheit 5).

Der zweite Anwendungstyp der Ratingskala ist die grafische Skala, bei der die Ausprägungsgrade oder Beispielitems entlang einer Geraden angelegt sind, als bereits markierte Längen oder mit Festlegungen durch den Beobachter selbst. Zur weiteren Auswertung müssen aber die so gewonnenen Daten in Zahlen umgerechnet werden. – Letztlich kommen in unserem Anwendungsfeld die numerischen Skalen häufiger vor als die grafischen Skalen.

Vor der Erstellung und Verwendung von Ratingskalen (manchmal auch als Einschätzskalen bezeichnet) wird das interessierende Verhalten im optimalen Fall theoretisch erforscht. Es kann z.B. ein Substrat von Lehrerverhalten sein, das als Ergebnis einer Faktorenanalyse entstanden ist, wie das Merkmal Wertschätzung-Geringschätzung bei Tausch und Tausch (1971). Bei der Anwendung einer solchen Skala wird das Auftreten des fraglichen Verhaltens erfasst, und zwar nach Intensität und Häufigkeit des Auftretens. Ratingskalen werden aber auch unter Umständen rasch zusammengestellt.

Ratingskalen
Mit Ratingskalen (Einschätzskalen) zur Verhaltensbeobachtung wird Häufigkeit oder Intensität meist theoretisch beschriebener Verhaltensausschnitte oder -aspekte auf einer Skala eingeschätzt.

Bei Anlage der Verhaltensbeobachtung muss auch noch festgelegt werden, für wie lange eine solche Skala zum Einsatz kommt. In unserem schulischen Kontext entspricht diese Beobachtungseinheit meist einer Unterrichtsstunde, also 45 Minuten. Das war und ist meist auch die Standardlänge von Videobändern bzw. Kassetten.

Tabelle 7.3: Ratingskala, die aus den folgenden 5 Skalenpunkten und Benennungen besteht.

Benennungen

Skalenpunkte

- sehr hoch

(5)

- hoch

(4)

- mittel

(3)

- niedrig

(2)

- sehr niedrig

(1)

Der beobachtende Praktikant entscheidet sich bei dieser Ratingskala für eine der Zahlen von 1 bis 5 und kreuzt diese an.

Nun ist der Einsatz der Ratingskala nicht so zu verstehen, dass immer eine einzige Skala vom Beobachter/von der Beobachterin anzuwenden sei. Es gibt auch Fälle, wo z.B. gleichzeitig zwei Skalen verwendet werden oder mehr. Aber auch bei einer noch größeren Anzahl ist im Vergleich mit Zeichensystemen und Kategoriensystemen klar, dass der Aufwand hier geringer ist. Es muss ja im Fall einer Skala nur eine einzige Zahl angekreuzt oder aufgeschrieben werden, welche das Ergebnis der 45-minütigen Verhaltensbeobachtung ist. Solche Beobachtungen sollten dann in festgelegter Serie wiederholt und untereinander verglichen werden. Man findet bei diesem Typus auch relativ häufig die sicher zutreffende Aussage: Der Beobachter ist das Messinstrument.

 

3.5 Eventsampling und Timesampling bei den drei Grundverfahren zur Verhaltensbeobachtung

Es hat sich bis hierher schon gezeigt, dass Zeichensysteme und Kategoriensysteme viel gemeinsam haben. Bei beiden lassen sich gleichermaßen zwei andere Grundtypen von Verhaltensbeobachtung anwenden: Das Eventsampling und das Timesampling (Bodenmann, 2006, S. 155; Faßnacht, 1995, S. 124-157). Beim Eventsampling wird ein Event, ein Ereignis, kodiert, sobald und so häufig es auftritt (ein Beispiel s. Tab. 7.4).

Tabelle 7.4: Einfachste Aufzeichnung einer Kodierung als Eventsampling mit einem Zeichensystem oder einem Kategoriensystem mit 4 Verhaltensklassen (aU, rU,eS, uS) entlang der Zeitleiste, aber ohne Berücksichtigung der Dauer. Im Beispiel 30 Kodierungen.

rU
aU
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rU
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aU
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Damit entsteht eine Abfolge von Kodierungen im natürlichen Zeitfluss. Die Zeit ist damit also nicht ausgeschlossen; vielmehr geht die Beobachtung an der Zeitleiste entlang und kann, je nach Verfahren, sogar die zeitliche Dauer einzelner Verhaltensweisen registrieren. Beim Timesampling dagegen gibt es vorher festgelegte Zeiteinheiten, z.B. 10 s. In jeder Zeiteinheit muss für die Beobachtung eine Kodierung erfolgen. Das kann z.B. dadurch erleichtert werden, dass pro Zeiteinheit ein Kästchen vorgegeben ist, in das hinein das Symbol für die jeweils stattfindende Verhaltensweise erfolgt. Günstig ist dazu ein Zeitgeber. Im Zeitalter der Laptops kann man ein Programm entwickeln, das pro Zeiteinheit eine „frische“ Stelle zeigt, in der die Kodierung durch eine bestimmte Taste gesetzt werden muss. Die einfachste Variante wäre aber eine schlichte Strichlistenführung in den vorhandenen Beobachtungsklassen (Tab. 7.5).

Tabelle 7.5: Einfachste Strichlistenführung bei Timesampling. Jeder der 30 Striche repräsentiert die gleiche Zeitdauer, eingeordnet in eine von 4 Verhaltensklassen (aU, rU,eS, uS). Bei einer Dauer von 10 s pro Zeiteinheit ist hier ein Abschnitt von 5 Min. aus dem Verhaltensstrom kodiert.

Beobachtungsklasse aU

Beobachtungsklasse rU

Beobachtungsklasse eS

Beobachtungsklasse uS

In dem Lehrbuch von Faßnacht sind zwar Eventsampling und Timesampling einerseits und Ratingskalen andererseits in unterschiedlichen Kapiteln behandelt; sie ließen sich aber insofern zusammenbringen, als dass beim Eventsampling (s. Tab. 7.4) zusätzlich zum signierten Code noch eine Einschätzung mit einer Ratingskala vorgenommen würde und beim Timesampling (s. Tab. 7.4) zusätzlich zur Setzung der einzelnen Striche. Das würde allerdings das System und die Anforderungen an den Beobachter verkomplizieren.

Nun muss noch die Frage der Beobachtungseinheit angeschnitten werden, also die Frage, wann der Beobachter aktiv werden muss: In zwei bekannten Kategoriensystemen zur Verhaltens-beobachtung werden die Beobachtungseinheiten unterschiedlich vorgegeben: Im prominentesten Kategoriensystem zur Verhaltensbeobachtung, nämlich der Interaktions-prozessanalyse nach Robert F. Bales (s. Bales, 1950; Faßnacht, 1995, S. 184 f.; Lukesch, 1998, S. 135-151; Trolldenier, 1985), wird die Beobachtungseinheit so festgelegt: Immer dann, wenn das beobachtete Verhalten mit einer anderen Kategorie signiert werden kann, hat das auch zu geschehen. Das ist Eventsampling (Ausnahmen bei sehr langer Dauer). Anders ist der Ablauf bei dem auf Lehrerverhalten ausgelegten System „Flanders‘ Interaction Analysis Categories (FIAC)“ (Flanders, 1970; Trolldenier, 1985, S. 113-119) festgelegt. Hier wird quasi unerbittlich vom Beobachter alle 3 Sekunden eine Signierung verlangt. Das ist Timesampling.

Damit soll nun der Übergang zu ausgewählten Beispielen erfolgen.

4. Beispiele für Beobachtungssysteme zur Erfassung des Leistungsverhaltens

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4.1 Zeichensysteme zur Erfassung unterrichtlicher Mitarbeit

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4.2 Kategoriensysteme zur Erfassung unterrichtlicher Aufmerksamkeit und Mitarbeit

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5. Beispiele für Beobachtungssysteme zur Erfassung des Sozial- und Persönlichkeitsbereichs

Beobachtungsverfahren zu dieser Kapitelüberschrift kommen häufig vor und es sind einige relevante ausgewählt.

5.1 Zeichensysteme zur Erfassung von Sozial- und Persönlichkeitsvariablen im Unterricht

Hier wird ein neues Verfahren als tragendes Beispiel vorgestellt, das in einem Anwendungsbereich liegt, der offensichtlich in den letzten Jahren auf zunehmendes Interesse gestoßen ist, nämlich das „Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS)“ von A. Wettstein (2008 a/b). Es wird vom Verlag als Mappe mit Manual, Kategorienheft, 2 CDs zum Beobachtertraining und Auswertung und dem Plakat „erwünschtes Zielverhalten“ angeboten. Ein solches Komplettangebot ist notabene rar. – Ein Zeichensystem liegt vor, weil nur die aggressiven Verhaltensweisen im Unterricht erfasst werden.

Das BASYS ist zweigeteilt und besteht aus der „Version Lehrkräfte“ sowie aus der „Version Fremdbeobachter“. Die Version Lehrkräfte soll nach Einführung durch Text, Beispiele und Bilder die anwendenden Lehrkräfte befähigen, die Beobachtung ihrer Schülerinnen und Schüler selbst vorzunehmen. Dazu sind folgende 8 Kategorien des aggressiven Schüler-verhaltens aufgestellt und beschrieben (Wettstein, 2008a):

  1. „Oppositionelles Verhalten gegen die Lehrkraft“ (Beispiele: „Verweigern, dazwischenschreien, brüllen, trotzen, sich einfachen Regeln widersetzen, die Schuld auf andere schieben.“)
  2. „Aktiv gegen Fremdperson, offen-direkt“ (Beispiele: „Verbal: Drohen, beschimpfen, beleidigen, Halsabschneidegeste, anschreien, anbrüllen, drohen, einschüchtern, Geste des Erschießens. Körperlich: Schlag andeuten, boxen, treten, schlagen, stoßen, beißen, kratzen, anspucken, wegdrängen, wegziehen, an Haaren und Ohren ziehen.“)
  3. „Aktiv gegen Fremdperson, verdeckt-hinterhältig“ (Beispiele: „Verbal: Falsche Anschuldigungen machen, Gerücht verbreiten. Körperlich: Dem Gesprächspartner die kalte Schulter zeigen, Gegenstand stehlen bzw. verstecken, demonstrativ gezeigte körperliche Distanz.“)
  4. „Aggression gegen Gegenstände“ (Beispiele: „Verbal: Beschimpfen und Verfluchen von Gegenständen. Körperlich: Tür zuknallen, Blatt zerreißen, Stifte zerbrechen, gegen einen Stuhl treten, Pultdeckel zerkratzen, Wand beschmieren, Papierkorb im Schulzimmer herumkicken, Sachen durch die Luft werfen.“)
  5. „Partei ergreifen gegen Fremdperson; offen-direkt“ (Beispiele: „Verbal: Höhnisches Auslachen oder Herabsetzen des Opfers, Anfeuern des Täters. Körperlich: Den am Boden liegenden Schüler boxen oder treten, einem Konfliktpartner die Faust in den Rücken schlagen.“)
  6. „Partei ergreifen gegen Fremdperson; verdeckt-hinterhältig“ (Beispiele: „Verbal: Verstecktes Grinsen, scheinheilig grinsend nachfragen: „Tut es weh?“ „Weinst du?“. Körperlich: Sich feixend hin zu Mitschülern orientieren, verdeckte Tritte und Schläge.“)
  7. „Unkodierbar: Restkategorie.“ „Verhalten, das für die Lehrkraft eine starke Belastung darstellt, aber keiner der Kategorien 1 bis 6 zugeordnet werden kann.“
  8. „Unkodierbar: Unsichtbar.“ Hiermit sind Verhaltensweisen gemeint, die von der Lehrkraft nicht klar erkennbar sind, jedoch als aggressiv eingestuft werden können.

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Illustrationsbeispiel für "aktiv gegen Fremdperson; offen-direkt"

(Bild und Text aus Wettstein 2008a, S. 38)

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Illustrationsbeispiel für "aktiv gegen Fremdperson; verdeckt-hinterhältig" (Bild und Text (gekürzt) aus Wettstein 2008a, S. 38)

Abbildung 7.1: Illustrationsbeispiele aus "BASYS". Wettstein 2008a. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber, Bern. Copyright © Hans Huber Verlag Hogrefe AG. Bezugsquelle: www.testzentrale.de.

Die Anwendung wird erst nach einer gründlichen Einarbeitung empfohlen und soll zu festgelegten Zeitintervallen geschehen, z.B. zwei Wochen lang täglich an zwei fixierten Unterrichtsstunden. Es wird ein Beobachtungsbogen mit allen 8 Kategorien und der jeweiligen Aufteilung "verbal, Mischform, körperlich" angeboten. Die Namen der jeweiligen Schüler werden auch festgehalten. Die Auswertung, erleichtert durch ein Dateneingabe-Programm, erfolgt für einzelne Schüler oder für die ganze Klasse. Im Manual werden Interventionsmöglichkeiten skizziert und empfohlen, nach dem A-B-A-B-Design zu verfahren: Eine Woche Beobachtung, ohne dass Intervention durchgeführt wird (=Grundrate), eine Woche Beobachtung während Intervention durchgeführt wird, dann wieder eine Woche Beobachtung ohne Intervention und noch einmal eine Woche Beobachtung während Intervention durchgeführt wird.

Der zweite Teil des BASYS ist der für Fremdbeobachter, also Teamlehrkräfte, Praktikanten, Berater... Dabei werden dieselben 8 Kategorien verwendet, aber ergänzt durch Unterrichtliches Setting (7 Möglichkeiten), Funktion für die Schüler (7 Möglichkeiten,  z.B. Abwehr, Überforderung...) und Reaktion der Lehrkraft (5 Möglichkeiten, z.B. neutral, strafandrohend…). Damit können noch Zusatzinformationen gewonnen werden.

Die Gütekriterien sind bisher insbesondere unter einem speziellen Aspekt erforscht: Lehrkraft und Fremdbeobachter wenden beide das BASYS an und verwenden auch Videoaufnahmen zur Kodierung. Wettstein ermittelte dabei die „Detektionsrate“, also den Prozentsatz der richtig kodierten Ereignisse. In seinem Tabellenbeispiel (2008, S. 94) gibt er für die Lehrkraft 82 % Treffer an (also richtige Kodierungen), für den Fremdbeobachter 92 %. Das sind in beiden Fällen hohe Ergebnisse, wobei uns jedoch nicht ganz klar wurde, wie repräsentativ diese Ergebnisse für das Verfahren im Ganzen sind und wie eigentlich die für die Prozentangabe absolute Richtigkeit der Kodierungen ermittelt wurde. Das Verfahren erscheint dennoch in all seiner Differenzierung, die hier gar nicht vollständig wiedergegeben werden konnte, als lohnenswert. Es ist offenbar teilweise orientiert an dem älteren und bekannten, für das zum thematisch ebenfalls einschlägigen Konstanzer Lehrertraining (Neuauflage bzw. Kurzfassung Humpert & Dann, 2001) entwickelten „Beobachtungsverfahren zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht“ (BAVIS) (Humpert & Dann, 1988), in derselben Verlagsgemeinschaft erschienen, und löst dieses wohl ab.

 

 

 

5.2 Kategoriensysteme zur Erfassung von Sozial- und Persönlichkeitsvariablen im Unterricht

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5.3 Ratingskalen zur Erfassung von Sozial- und Persönlichkeitsvariablen im Unterricht

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6. Zuordnungen, Probleme und Bewältigung

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6.1 Welches Verfahren der Verhaltensbeobachtung wozu?

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6.2 Probleme bei Verhaltensbeobachtung und deren Bewältigung

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7. Literaturempfehlung

Langfeldt, H.-P. & Tent, L. (1999). Pädagogisch-psychologische Diagnostik. Band 2: Anwendungsbereiche und Praxisfelder. (Kapitel 8. Beobachten und Beschreiben, S. 109-116). Göttingen: Hogrefe.

Wild, K.-P. & Krapp, A. (2006). Pädagogisch-psychologische Diagnostik. In A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch (5. Aufl.). (S. 525-574). Beltz: Weinheim.    

8. Literaturverzeichnis

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9. Übungsfragen

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