2. Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit

2.2. Prüfungs- und Entscheidungsmaßstäbe

a) Die wohl wichtigsten Implikationen für die Entscheidungen von Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten leiten sich aus den ihnen jeweils zugewiesenen Prüfungsmaßstäben ab. Das Bundesverfassungsgericht zieht auch bei der Überprüfung von Akten der Landesstaatsgewalt grundsätzlich nicht das Landesverfassungsrecht heran, sondern allein das Grundgesetz sowie das einfache Bundesrecht (BVerfGE 41, 88 (119 f.) – Gemeinschaftsschule). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ergibt sich nur, soweit das Bundesverfassungsgericht kraft grundgesetzlicher Zuständigkeit hilfsweise als Landesverfassungsgericht tätig wird, so etwa in den Verfahren nach Art. 99 GG i. V. m. § 13 Nr. 10 BVerfGG (Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes) oder nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG i. V. m. § 13 Nr. 8 Var. 3 BVerfGG (Landesorganstreitverfahren).

Da heute alle 16 Länder über ein eigenes Landesverfassungsgericht verfügen, kommt dem Bundesverfassungsgericht als Ersatzlandesverfassungsgericht nach Art. 99 GG in der Praxis keine Relevanz mehr zu. Bis 2008 jedoch verzichtete Schleswig-Holstein auf die Einrichtung eines Landesverfassungsgerichts, so dass für landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten nach Art. 51 SHVerf. a.F. i. V. m. Art. 99 GG der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht zu beschreiten war. Vgl. vertiefend hierzu nur Flor: 6 Jahre Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht, in: SchlHA 2014, 115 ff.

Der Prüfungsmaßstab der Verfassungsgerichte der Länder ist allein die jeweilige Landesverfassung. Die Beschränkung auf ihren landesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab entbindet die Landesverfassungsgerichte jedoch nicht von ihrer Bindung an Recht und Gesetz. Normen des Landesverfassungsrechts, die gegen das Grundgesetz oder einfaches Bundesrecht verstoßen, sind daher auch durch Landesverfassungsgerichte nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen (BVerfGE 36, 342 (346 ff.) – Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz).

b) Die Beschränkung der Landesverfassungsgerichte auf die Landesverfassung als Prüfungsmaßstab führt in der Praxis durchaus zu Problemen: Zahlreiche Akte der Landesstaatsgewalt sind durch die Anwendung von Bundesrecht gekennzeichnet, so dass sich auch die Frage stellt, inwieweit die Anwendung von Bundesrecht Gegenstand einer am Maßstab der Landesverfassung durchzuführenden, landesverfassungsgerichtlichen Überprüfung sein kann. Bedenken hiergegen ergeben sich schon aus Art. 31 Abs. 1 GG, da eine solche Überprüfung letztlich die Anwendung von Bundesrecht unter einen landesverfassungsrechtlichen Vorbehalt stellen würde. In der Praxis ergibt sich eine solche Konstellation vor allem bei der landesverfassungsgerichtlichen Kontrolle landesgerichtlicher Entscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht hält dabei die Kontrolle und letztlich auch die Kassation von Akten der Landesstaatsgewalt im Hinblick auf die Anwendung des Prozessrechts des Bundes (wie die StPO oder VwGO) grundsätzlich unter Bedingungen für möglich (BVerfGE 96, 345 ff. – Landesverfassungsgerichte).

Erforderlich hierzu ist zunächst, dass die Beschwer eines Beschwerdeführers im landesverfassungsgerichtlichen Verfahren allein aus einer landesgerichtlichen Entscheidung, nicht jedoch einer bundesgerichtlichen Entscheidung resultiert. Zur Entfaltung einer Kassationswirkung muss die Landesverfassungsbeschwerde aufgrund der föderalen Kompetenzordnung landesrechtlich subsidiär gegenüber dem fachgerichtlichen Rechtsweg ausgestaltet sein. Die gerügte fehlerhafte Verfahrensgestaltung muss ferner einen Anwendungsfall für ein Landesgrundrecht begründen können. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn der Vorgang abschließend durch Bundesecht geregelt ist, weil das bundesrechtliche Prozessrecht der Landesstaatsgewalt keinen Entscheidungsspielraum mehr überlässt. Darüber hinaus muss das Landesgrundrecht dem Inhalt nach einem Grundrecht des Grundgesetzes gleichen. Schließlich müssen eine Anwendung des Landesgrundrechts und eine hypothetische Anwendung des inhaltsgleichen Grundrechts des Grundgesetzes zu demselben Ergebnis führen. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist die Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht bereits unzulässig (BVerfGE 96, 345 (363 ff.) – Landesverfassungsgerichte). Ob diese Konzeption für das Prozessrecht auch auf das materielle Recht übertragbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht bislang offengelassen; schlüssige Gründe für eine Differenzierung von Prozessrecht und materiellem Recht finden sich hingegen nicht. Vertiefend zu diesem Gesamtkomplex Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 48; Hain, in: NJW 1998, 1296 ff.; Menzel, NVwZ 1999, 1314 ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 351 ff.

Relevant wurde diese Frage beispielsweise in der Honecker-Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofes von 1993 (BerlVerfGH, Beschl. v. 12.1.1993, VerfGH 55/92, in: NJW 1993, 515 ff.), mit der dieser Beschlüsse des Land- und Kammergerichts über die Ablehnung der Einstellung des Verfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls nach der StPO aufhob, weil sie den Beschwerdeführer in seiner landesverfassungsrechtlich gewährleisteten Menschenwürde verletzen. Der Berliner Verfassungsgerichtshof monierte damit die spezifische Anwendung von Bundesrecht durch die Fachgerichte auf Grundlage landesverfassungsrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen. (Vertiefend Berkemann, NVwZ 1993, 409 ff.; Lemhöfer, NJW 1996, 1714 ff.; Menzel, NVwZ 1999, 1314 ff.).

c) Zwar sind die Landesverfassungsgerichte auf die Landesverfassung als Prüfungsmaßstab verwiesen (BVerfGE 36, 342 (368) – Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz), jedoch finden sich wenige Ausnahmefälle, in denen auch Bundesrecht als Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte fungieren kann.

(1) Eine direkte Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes ist den Landesverfassungsgerichten grundsätzlich verwehrt. Ausnahmsweise möglich erscheint dies jedoch, soweit eine Landesverfassung die Grundrechte des Grundgesetzes durch eine Rezeptionsklausel als Bestandteil der Landesverfassung inkorporiert (vgl. Art. 2 Abs. 1 VerfBW, Art. 4 Abs. 1 VerfNRW). Die Grundrechte des Grundgesetzes werden damit in ihrer jeweils aktuell geltenden Fassung unmittelbar geltendes Recht der Landesverfassung.

(2) Ferner ergibt sich eine Durchbrechung der getrennten Verfassungsräume auch aus einer Vorfragekompetenz der Landesverfassungsgericht, die zur Wahrung eines gesetzmäßigen Prüfungsmaßstabes das Landesverfassungsrecht inzident auch auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen haben. Dies setzt letztlich implizit auch Art. 100 Abs. 1 und 3 GG voraus. Eine gegen das Grundgesetz verstoßende Norm der Landesverfassung wäre nach Art. 31 GG nichtig und könnte im vorgelegten Verfahren nicht als tauglicher Prüfungsmaßstab herangezogen werden (BVerfGE 103, 332 (352) – Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein). Das Bundesrecht wird hierdurch jedoch nicht zum Prüfungsmaßstab „in der Sache“.

(3) Die Heranziehung von Bundesrecht als Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte kann letztlich auch für den Fall des Hineinwirkens des Bundesverfassungsrechts in das Landesverfassungsrecht eröffnet sein. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich das Landesverfassungsrecht nicht alleine aus den kodifizierten Landesverfassungen, sondern auch aus Elementen der Bundesverfassung, die eine Ausstrahlungswirkung für die Landesverfassungen haben (BVerfGE 1, 208 (232 f.) – 7,5%-Sperrklausel).

Dies wird zuvorderst für Art. 21 GG angenommen (BVerfGE 1, 208 (227) – 7,5%-Sperrklausel; 3, 375 (378); 66, 107 (114)), jedoch auch für den in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Grundsatz der Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung oder für die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Wahlbewerber (BVerfGE 120, 82 (101 ff.) – Sperrklausel Kommunalwahl).

In ähnlicher Weise hat das Bundesverfassungsgericht auch die Kompetenznormen des Grundgesetzes zu dem dem Grundgesetz entlehnten Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte erklärt, so dass Landesverfassungsgerichte Fragen der grundgesetzlichen Zuständigkeit abschließend im Rahmen ihrer Vorfragenkompetenz entscheiden können (BVerfGE 60, 175 (206) – Startbahn West). Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stößt maßgeblich wegen der Durchbrechung der getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern sowie einer Umgehung von Art. 28 Abs. 1 GG auf deutliche Kritik.

In allen dargestellten Fällen bleibt bei streng formaler Betrachtung indes das Landesverfassungsrecht der maßgebliche Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte, da das Bundesrecht – sei es durch Inkorporation, sei es durch „Hineinwirken“ – durch Aufnahme in die Rechtssphäre der Landesverfassungen autochthones Landesverfassungsrecht wird.