§ 1 Einführung
I. Gegenstand der Staatslehre
Die Allgemeine Staatslehre vereint eine Vielzahl rechtsanwendungsbezogener Wissenschaften, weshalb sie nicht als ein eigenständiges Forschungsgebiet zu verstehen ist. Insbesondere die Politikwissenschaft, die Staatsphilosophie, die Verfassungsgeschichte, die Verfassungsvergleichung und die Staatsoziologie werden bei der Charakteristik der Allgemeinen Staatslehre einbezogen. Daneben gibt es auch einige weitere Gebiete, die sich mit staatsrechtlichen Gesichtspunkten beschäftigen (hier seien Psychologie, Theologie und Wirtschaftswissenschaften genannt). Zum Gegenstand hat die Allgemeine Staatslehre die Untersuchung der inneren und äußeren Gegebenheiten eines Staates, ohne einen konkreten Staat ins Blickfeld zu nehmen. Objektivierend stellt sie die staatstypischen Merkmale der drei Elemente-Lehre, die Souveränität von Herrschaften, den Aufbau und Untergang von Staaten, die Staatsformen, die Staatsangehörigkeit u.v.m. dar.
Die Begrifflichkeit Staat lässt sich auf das lateinische Wort status (Zustand) und den italienischen stato (Ordnung) zurückführen[1]. Bezeichnend waren die Schriften des Staatstheoretikers Niccolò Machiavelli (1469-1527), aus denen der Ausdruck Staat über die Grenzen Frankreichs (l´état) und Englands (state) nach Deutschland überliefert wurde.
Nach heutigem Verständnis bedeutet Staat „die Organisation einer Gruppe von Menschen innerhalb eines bestimmten Teils der Erde, die mit einer ursprünglichen hoheitlichen Gewalt über alle in ihm lebenden Menschen ausgestattet ist“[2]. Nach kontinentaleuropäischer, insbesondere deutscher Auffassung stellt der Staat eine juristische Person, genauer eine Gebietskörperschaft dar.[3] Diese Organisationsform ermöglicht dem Staat sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich tätig zu werden.
Anthropologische Grundkonstante des Menschen ist sein Bedürfnis nach Sicherheit. Daher schließt er sich seit jeher zu Gruppen und Gemeinschaften zusammen, da diese Sicherheit und Ordnung nach innen und außen gewährleisten können. Der moderne Staat ist nur eine mögliche Herrschaftsordnung für Gemeinschaften von Menschen.[4] Seit Georg Jellinek wird anhand dreier Elemente bestimmt, ob ein Zusammenschluss von Menschen als Staat anzusehen ist oder nicht; dies sind: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt.[5] Die Entstehung und der Untergang eines Staates hängen entscheidend hiervon ab. Gebilde wie Somalia oder der Tschad, die diese Kriterien nicht mehr vollständig erfüllen können, werden daher auch als failed states (gescheiterte Staaten) bezeichnet.[6] Insbesondere mit Blick auf die Kompetenzübertragungen von den Mitgliedsstaaten auf die Europäische Union im Rahmen des Europäischen Integrationsprozesses, aber auch durch andere – weltweit beobachtbaren – Internationalisierungs- und Transnationalisierungstendenzen, wird die Allgemeingültigkeit der Jellinek’schen Drei-Elemente-Lehre zunehmend in Frage gestellt.[7] Auf die daraus resultierenden Konsequenzen, insbesondere den Wandel der Staatlichkeit[8], wird im letzten Drittel des Kurses näher einzugehen sein.
[1] Schöbener, AllgStL, § 2, Rn. 2.
[2] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 1.
[3] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 1.
[4] Badura, Staatsrecht, A, 2.
[5] Jellinek, AllgStL, 183, 394 ff.
[6] Vgl. hierzu beispielsweise den jährlich aktualisierten failed states index des Magazins Foreign Policy (Stand 11.09.2012).
[7] Vgl. statt vieler Zippelius, AllgStL, § 10, III, IV.
[8] Schuppert, Staatswissenschaft, S. 23.