§ 1 Einführung
IV. Entstehungsmodelle von Staaten - Überblick
Von den heute rund 193 international anerkannten Staaten,[1] sind seit dem Zweiten Weltkrieg 105 souveräne Staatengemeinschaften entstanden. Während in der Zeit von 660 v. Chr. bis 1776 (Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika) im Durchschnitt alle 175 Jahre ein neuer Staat geschaffen wurde, geschah dies im 20. Jahrhundert etwa alle 12 Monate. Die nachfolgenden Theorien stellen Modelle dar, die die Staatsentstehung bzw. den Staatszerfall und die politischen Herrschaftsstrukturen zu erklären versuchen.
1. Religiöse Theorie
Nach der religiösen Theorie stellt der Staat eine göttliche Institution dar; Staaten wurden als von Gott gegeben angesehen. Stützung findet diese Anschauung in den Worten des Apostels Paulus, wonach jede Obrigkeit von Gott verordnet sei. Diese Theorie geht auf Augustinus (354-430) zurück. Ihre Vertreter waren unter anderem auch Thomas von Aquin (1226-1274) und Dante Alighieri (1265-1321)[2].
2. Patriarchaltheorie
Die Entstehung der Patriarchaltheorie ist auf die Dominanz der Familienväter,[3] welchen eine entscheidende – wenn nicht die wichtigste – Rolle des Familienverbandes zukam, zurückzuführen. Danach folge aus der familiären, oft männlich monopolistischen Gewaltinhaberschaft die Etablierung des (Macht-)Stärkeren auf Ebene des Staates, was letztlich zu einer staatlichen Herrschaftsstruktur geführt habe. Die Genese einer (Staats-)Gemeinschaft aus einem Zusammenwachsen verschiedener Familien zu Sippen zu Stämmen zu Stammesverbänden zu Volksgemeinschaften wurde zwar bereits in der antiken Literatur für altgriechische Völker beschrieben und kann bei Naturvölkern beobachtet werden. Die Patriarchaltheorie ging über die bloße Beschreibung dieses Prozesses hinaus, indem aus den tatsächlichen Beobachtungen ein Rückschluss auf die Legitimität patriarchaler Machtstrukturen im Staat gezogen wurde. Dies stellt aber einen Zirkelschluss dergestalt dar, dass die Beschreibung des zu erklärenden Phänomens selbst dessen Erklärung sei.[4]
3. Patrimonialtheorie
Der Patrimonialtheorie zufolge ist die Inhaberschaft der Herrschaftsgewalt Folge des Eigentums der Landesherren am Staatsgebiet. Sie sieht die Regierung als „natürlichen“ Ausfluss der privaten Rechte des Herrschenden, es handle sich um zwei Seiten derselben Medaille. Der König besitze danach das „Obereigentum“ an Grund und Boden und binde durch sein Lehen Vasallen und Untervasallen an sich[5]. Dagegen seien die Grundholden als Zubehör zu Grund und Boden zu betrachten. Der gegen die Patriarchaltheorie vorgebrachte Einwand des Zirkelschlusses trifft auch auf die Patrimonialtheorie zu. Überdies haben geschichtswissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass die Patrimonialtheorie Resultat und nicht Ausgangspunkt des mittelalterlichen Lehnswesens war.[6]
4. Vertragstheorie
Die Vertragstheorie begründet die politische Herrschaft mit (fiktiven oder faktischen) Herrschafts- oder Beherrschungsverträgen. Basierend auf den Lehren von Hobbes (1588-1679), vertritt sie die Auffassung, der Staat sei durch einen Vertrag der Staatsmitglieder entstanden, womit auch die Herrschaft über die im Staat lebenden Menschen begründet wird. Vertragsinhalt seien die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Bürger (und des Herrschers) gewesen.[7] Verfechter waren neben Hobbes, beispielsweise von Pufendorf (1632-1694), Kant (1724-1804) und Rousseau (1712-1778) mit seinem Buch „Le Contrat Social“ (Der Gesellschaftsvertrag, 1762); allerdings mit je unterschiedlichen, z.T. konträren Vorstellungen von Form, Art, Inhalt und Partner der Verträge.[8]
Unterschieden werden muss bei allen Vertragstheorien indes zwischen der Erklärung der Entstehung von Staaten und der Begründung der Legitimität der Herrschaftsgewalt in bestehenden Staaten. Während letzterer Punkt – um den es an dieser Stelle gerade noch nicht gehen soll – bei allen genannten Vertretern den Schwerpunkt der Überlegungen und Ausführungen bildete, kann keine der Theorien die Entstehung des Staates allein aus dem Vertragsgedanken heraus begründen. Die daneben mitunter vorgetragene Kritik, die Theorien taugten nicht, da sie den Beweisen für die Abgabe der Willenserklärungen zum Vertragsschluss schuldig blieben,[9] verkennt, dass auch ein abstraktes Konzept, losgelöst von konkreten historischen Ereignissen, eine zulässige Theorie zur Staatengenese darstellen könnte, wenn es ihr gelingen würde, die Gründe für die Entstehung von Staaten stimmig zu erklären.
5. Machttheorie
Die Machttheorie geht davon aus, dass die Entstehung eines Staates auf der Unterwerfung einer Menschengruppe durch eine andere basiert. Der sich in der Minderheit befindende Stärkere hat es verstanden, seine Stellung gegenüber den in der Mehrheit lebenden Schwächeren auszubauen und sie unter seine Herrschaft zu bringen. Der Staat ist demnach eine Organisation in der eine mächtige Minderheit über viele Schwächere herrscht.[10] Vertreter waren beispielsweise Plato (427-347 v. Chr.), Machiavelli (1469-1527), Engels (1820-1895), Marx (1818-1883), Lassalle (1825-1894) und Oppenheimer (1864-1934).
Ihr wird die inhaltlich hochgradige Unbestimmtheit des – für die Theorie so zentralen – Gewaltbegriffes, entgegengehalten.[11] Zwar ist es richtig, dass Macht, Machtausübung oder das Innehaben des Machtmonopols wichtige Faktoren bei der Entstehung der Staaten darstellen, allerdings räumen die Vertreter der Machttheorie durch die Offenheit des Gewaltbegriffes, jedenfalls konkludent, selbst ein, dass Macht allein keine hinreichende Begründung darstellt.
6. Kritik
Allen eben beschriebenen Theorien gemein ist die aus dem begrenzten Blickwinkel resultierende Unzulänglichkeit ihres Erklärungsansatzes. Da jede Theorie den Fokus auf ein Kriterium legt und die Einflüsse der jeweils anderen Faktoren nicht schlüssig zu erklären vermag, sind sie im Ergebnis jede für sich genommen als Alleinerklärungsmodell abzulehnen. Andererseits existiert derzeit keine Theorie, welche die Entstehung von Staaten umfassend erklären kann. Einen interessanten Ansatz stellt in diesem Zusammenhang indes die Untersuchung von Schuppert dar. Diese betont das Prozesshafte bei der Herausbildung von Staaten und versucht die verschiedenen, z.T. ganz unterschiedlichen Einflüsse – Säkularisierung, Monopolisierung von Staatsgewalt und Legitimation politischer Herrschaft, die Verrechtlichung von Politik, der Enträumlichung von politischer Herrschaft, der Staat als Exportartikel oder Beutegegenstand, u.a. – miteinander zu verbinden.[12]
[1] Zugrunde gelegt wurde hier die Mitgliederliste der Vereinten Nationen zzgl. des Vatikanstaates; nach anderer Zählweise kann man auf weit über 200 Staaten bzw. staatsähnliche Gebilde kommen, vgl. CIA The World Factbook (Stand: 11.09.2012).
[2] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 13
[3] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 13; Haller/Kölz, in Allgemeines Staatsrecht, S. 3.
[4] Zippelius, AllgStL, § 15, vor I.
[5] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 13
[6] Zippelius, AllgStL, § 15, III.
[7] Zippelius, AllgStL, § 15, II.
[8] Vgl. hierzu die jeweiligen Ausführungen zu den Theorien der einzelnen Vertreter unter § 3des Kurses.
[9] So Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 14.
[10] Reineck, Staatslehre und Staatsrecht, S. 14.
[11] Zippelius, AllgStL, § 15, IV.
[12] Schuppert, Staat als Prozess, passim.