3. Arten, Ziele, Strategien und Modelle der Diagnostik

3.3 Modelle der Diagnostik

Eigenschaftsdiagnostik und Verhaltensdiagnostik können als Modelle der Diagnostik angesehen werden (Amelang & Schmidt-Atzert, 2006; Ingenkamp & Lissmann, 2005), bei denen sich Ziele, Strategien und auch der theoretische Hintergrund unterscheiden. In der Eigenschaftsdiagnostik geht man davon aus, dass sich Menschen durch eine Reihe von Eigenschaften (engl. traits) charakterisieren lassen. Diese Auffassung entspricht dem Alltagsdenken vieler Menschen, wurde aber auch in der Wissenschaft von Autoren wie Gordon W. Allport (1961), Raymond B. Cattell (1978) oder Hans Jürgen Eysenck (Eysenck & Eysenck, 1987) vertreten. In Eigenschaftstheorien wird dem Verhalten transsituative Konsistenz zugeschrieben, d.h. Eigenschaften wie etwa Extraversion, Ängstlichkeit oder Intelligenz sollten in unterschiedlichen Situationen zu ähnlichem Erleben oder Verhalten führen. So erwartet man von einem extravertierten Menschen, dass er sowohl fremden als auch vertrauten Personen gegenüber offen ist und große Gesprächsanteile übernimmt. Mit der Kenntnis von Eigenschaften verbindet man die Erwartung, künftiges Erleben und Verhalten vorhersagen zu können. Da Eigenschaften nicht direkt beobachtbar sind, muss man bei deren Messung auf Indikatoren zurückgreifen, die auf die Ausprägung der Eigenschaft schließen lassen. Diese Indikatoren werden meist per Fragebogen abgefragt. Näheres zu unbeobachtbaren Variablen behandeln wir im nächsten Abschnitt.

Die Verhaltensdiagnostik ist eng mit der theoretischen Strömung des Behaviorismus verbunden (z.B. Watson, 1913; Skinner, 1953), bei dem unbeobachtbare Variablen aus den Theorien ausgeschlossen werden sollten, da deren Annahme und Erfassung als zu spekulativ galten. Als beste Grundlage zur Vorhersage zukünftigen Verhaltens wird in der Verhaltenstheorie vergangenes Verhalten angesehen. Dementsprechend geht es bei der Verhaltensdiagnostik darum, möglichst repräsentative Stichproben des interessierenden Verhaltens zu erheben, aber auch Daten zu den situativen Bedingungen und den Konsequenzen. Die wichtigste Methode hierbei ist die systematische Beobachtung. Eine wichtige Rolle spielt die Verhaltensdiagnostik bei der Therapie von Angststörungen (Phobien). Auch praktische Prüfungen, z.B. Fahrprüfungen oder Vorspiele auf einem Instrument, können als Verhaltensdiagnostik angesehen werden.

Der im 20. Jahrhundert teilweise vehement ausgetragene Streit zwischen diesen beiden Grundpositionen ist heute beigelegt. Theorien sind inzwischen kaum mehr denkbar ohne unbeobachtbare Variablen, und deren Erfassung hat ein hohes methodisches Niveau erreicht. Dennoch gilt die Verhaltenstheorie in manchen Kontexten (klinische Psychologie, pädagogische Interaktion) immer noch als angemessene und nützliche Sichtweise.