Gegenstandsbestimmung, Abgrenzung, Definitionen, Ziele, Rahmenbedingungen, wissenschaftstheoretische Grundlagen
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Kurs: | vhb - Pädagogisch-Psychologische Diagnostik und Evaluation - Demo |
Buch: | Gegenstandsbestimmung, Abgrenzung, Definitionen, Ziele, Rahmenbedingungen, wissenschaftstheoretische Grundlagen |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Donnerstag, 28. November 2024, 03:54 |
Beschreibung
Inhalte und Ziele
Inhaltsverzeichnis
- Wolfgang Schoppek, Bayreuth - Gegenstandsbestimmung, Abgrenzung, Definitionen, Ziele, Rahmenbedingungen, wissenschaftstheoretische Grundlagen
- 1. Einleitung
- 2. Rahmenbedingungen Pädagogisch-Psychologischer Diagnostik
- 3. Arten, Ziele, Strategien und Modelle der Diagnostik
- 4. Wissenschaftstheoretische Grundlagen
- 5. Der diagnostische Prozess
- 6. Literaturverzeichnis
- 7. Links
- 8. Übungsfragen
Wolfgang Schoppek, Bayreuth - Gegenstandsbestimmung, Abgrenzung, Definitionen, Ziele, Rahmenbedingungen, wissenschaftstheoretische Grundlagen
Ziele Die Bedeutung der PPD für den Lehrerberuf einordnen können, pädagogische und psychologische Ansätze abgrenzen können, Einflussgrößen auf PPD kennen und damit umgehen können, den diagnostischen Prozess und seine Aussagekraft richtig einordnen können. |
1. Einleitung
In pädagogischen Kontexten gibt es zahllose Gelegenheiten, bei denen Erziehende ihre Entscheidungen auf Informationen gründen, die sie über beteiligte Personen oder über die Situation haben. Dies gilt besonders im Bereich der Schule – auf den wir uns im Folgenden beschränken wollen. Schon ganz am Anfang der Schulzeit gibt es Untersuchungen zur Schuleignung, eventuelle Hoch- oder Minderbegabungen und Teilleistungsschwächen sollen festgestellt werden; am Ende der Grundschulzeit muss der Übertritt in weiterführende Schulen geregelt werden; Fördermaßnahmen werden abhängig von Testergebnissen durchgeführt; bei schwerwiegenden Problemen werden einzelne Schüler systematisch beobachtet und umfassend psychologisch untersucht; und nicht zuletzt versuchen Lehrkräfte tagtäglich, Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zu erfassen. All diese Beispiele sind mögliche Anwendungsgebiete der Pädagogisch-Psychologischen Diagnostik. In der Praxis werden pädagogische Entscheidungen leider oft auf der Basis unzulänglicher Informationen getroffen: Man verlässt sich auf subjektive Einschätzungen, Erzählungen Dritter, oder entwirft Schulaufgaben mehr oder weniger intuitiv. Das Anliegen dieses virtuellen Seminars ist es, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Sie Ihre pädagogischen Entscheidungen, wo immer möglich, auf objektiv gewonnene und exakte Informationen gründen können. Das Instrumentarium dafür stellt die Pädagogisch-Psychologische Diagnostik bereit. Sie sollten auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass eine ungenaue Informationsbasis Fehlentscheidungen wahrscheinlich macht, die für die Betroffenen ernste Folgen haben können.
Beispiele von Größen, die im Rahmen Pädagogisch-Psychologischer Diagnostik gemessen werden können:
- Intelligenz
- spezifische Begabungen (z.B. Musikalität)
- Lernvoraussetzungen (v.a. Vorwissen)
- Ängstlichkeit
- Prüfungsangst
- Stressverarbeitung
- Klassenklima
- Generalisierte Erfolgserwartungen (Selbstkonzept)
- Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
Da die Pädagogisch-Psychologische Diagnostik (PPD) wesentliche theoretische Konzepte und Aussagen sowie die meisten Methoden mit der Psychologischen Diagnostik (PD) gemeinsam hat, ist zunächst zu klären, in welchem Verhältnis diese zwei Disziplinen zueinander stehen. Während Ingenkamp in der Pädagogischen Diagnostik eine eigenständige Disziplin sieht (z.B. Ingenkamp & Lissmann, 2005), betonen andere Autoren die Nähe zur Psychologischen Diagnostik. Nach Klauer (1982) dient die PPD dazu, pädagogische Entscheidungen mit Hilfe psychologischer Mittel zu treffen. PPD ist also PD in pädagogischen Kontexten. Beide Disziplinen haben auch gemeinsame historische Wurzeln, vor allem in der Intelligenz-messung. Bereits in der Antike (beschrieben z.B. von Platon oder Aristoteles) gab es Auswahlprüfungen nicht nur zur Erfassung körperlicher, sondern auch intellektueller Tüchtigkeit (Heller, 2000). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben in Paris Binet und Simon (1908) wichtige Pionierarbeit zur systematischen Erfassung des intellektuellen Entwicklungs-standes von Schulkindern geleistet, und zwar auch mit dem Ziel, schwächere Schüler besser fördern zu können. Man kann also sagen, dass pädagogische Fragestellungen wichtige Impulse für die Entwicklung der PD geliefert haben.
Eine allgemein anerkannte Definition der Psychologischen Diagnostik (PD) stammt von Jäger und Petermann (1999). Sie lautet:
"Psychologische Diagnostik ist das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren. Solche Entscheidungen und Handlungen basieren auf einem komplexen Informationsverarbeitungsprozess. In diesem Prozess wird auf Regeln, Anleitungen, Algorithmen usw. zurückgegriffen. Man gewinnt damit psychologisch relevante Charakteristika von Merkmalsträgern und integriert gegebene Daten zu einem Urteil (Diagnose, Prognose). Als Merkmalsträger gelten Einzelpersonen, Personengruppen, Institutionen, Situationen, Gegenstände etc." (S. 11)
Die Definition beginnt mit der Aussage, dass im Rahmen der PD keine vagen Eindrücke, Vorurteile, oder Informationen aus zweiter Hand verarbeitet werden, sondern systematisch gesammelte und aufbereitete Informationen, um Entscheidungen fundiert treffen zu können. Besonders betont wird der Prozesscharakter der PD. Damit ist gemeint, dass sich die PD nicht auf Anleitungen und Algorithmen zur Erhebung und Auswertung von Daten beschränkt, sondern von der Problemstellung bis zur Urteilsbildung viele zeitlich aufeinander folgende Schritte umfasst. Den Schritten des Diagnostischen Prozesses ist weiter unten ein eigener Abschnitt gewidmet. Weit gefasst ist auch der Kreis der Merkmalsträger. Auch wenn dies meist Einzelpersonen sind, können auch Merkmale von größeren Einheiten diagnostiziert werden, etwa das Klassenklima oder die Kommunikationsstruktur einer Schule. Regeln, Anleitungen und Algorithmen beziehen sich auf den gesamten Ablauf, aber auch auf das Vorgehen bei der Informationssammlung, der Erstellung neuer diagnostischer Instrumente (Tests, Fragebogen usw.), Auswertung und Interpretation von Daten.
2. Rahmenbedingungen Pädagogisch-Psychologischer Diagnostik
Diagnostische Tätigkeiten finden immer in einem größeren Kontext statt, der die Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Personen mit bestimmt. Unmittelbar einleuchtend ist dies bei den rechtlichen Rahmenbedingungen: Lehrer/innen sind berechtigt (und verpflichtet) Schülerleistungen mittels Noten zu bewerten. Der Einsatz von Intelligenz- und Persönlichkeitstests bleibt dagegen Personen vorbehalten, die in psychologischer Diagnostik ausgebildet sind: neben Diplompsycholog/inn/en vor allem Schulpsycholog/inn/en, u.U. auch Sonderschul- oder Beratungslehrer/inne/n. Für die Frage, ob Lehrkräfte Schulleistungstests, z.B. zur Diagnose von Lernvoraussetzungen, einsetzen sollten, spielen ethische Rahmen-bedingungen eine Rolle: Man sollte diagnostische Werkzeuge nur anwenden, wenn die eigene diagnostische Kompetenz dazu ausreicht. Diese Frage muss jeder nach seinem Gewissen für sich selbst beantworten.
Diagnostische Tätigkeiten werden in einem Spannungsfeld zwischen individuellem und gesellschaftlichem Nutzen ausgeführt: Nicht alles, was einzelnen Personen hilft, ist auch für die Gesellschaft nützlich. Dies wird bei der Notengebung besonders spürbar. Ein zu milder Maßstab mag einzelnen schwächeren Personen helfen und das Selbstwertgefühl des Beurteilers stützen, insgesamt ist der Gesellschaft damit aber nicht gedient. Der Selektionsdruck wird dadurch nur nach hinten verschoben und an schwer kontrollierbare Instanzen weiter gereicht. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen individueller und gesellschaftlicher Nutzen miteinander vereinbar sind, wie beispielsweise die auf diagnostische Befunde gestützte individuelle Förderung. Schließlich sind noch methodische Rahmen-bedingungen zu erwähnen, die in der Verfügbarkeit diagnostischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren und im Hintergrundwissen und der methodischen Kompetenz des Diagnostikers bestehen.
3. Arten, Ziele, Strategien und Modelle der Diagnostik
In den Standardwerken zur PD und PPD werden Arten von Diagnostik, Modelle der Diagnostik, diagnostische Ziele und diagnostische Strategien unterschieden, wobei verschiedene Autoren die entsprechenden Konzepte nicht einheitlich diesen Kategorien zuordnen. Deshalb sollen zunächst die Bedeutungen dieser Kategorien geklärt werden. Diagnostische Ziele sind die Zwecke, denen die diagnostischen Handlungen dienen sollen. Sie lassen sich gut als Endzustände eines Prozesses beschreiben. Konkrete Beispiele dafür sind eine Schullaufbahn-Empfehlung, oder die Zuordnung zu einer von mehreren Lerngruppen, die sich im Niveau der dort behandelten Aufgaben unterscheiden. Konkrete Ziele können dann, wie wir sehen werden, globalen Zielkategorien zugeordnet werden.
Strategien sind abstrakte Pläne, die zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt werden. Sie beziehen sich auf das Vorgehen bei der Verfolgung eines Zieles. So kann man etwa Lernergebnisse mit einer Messung abschließend erfassen, oder aber versuchen, den Lernprozess mit mehreren Messungen abzubilden. Auch spezifische Strategien werden zu globalen Kategorien zusammengefasst. Auch konkrete Ablaufschemata, beispielsweise zur Feststellung der Förderschulbedürftigkeit (Kornmann, 1977), werden bisweilen als Strategien bezeichnet.
Der Modellbegriff wird häufig unscharf und auch uneinheitlich verwendet. Allgemein definiert ist ein Modell die Abbildung ausgewählter Aspekte eines realen Sachverhaltes in einem anderen Medium. So betrachtet sind alle idealtypischen Beschreibungen diagnostischer Prozesse Modelle von Diagnostik. Da bestimmte diagnostische Zielsetzungen häufig bestimmte Strategien nahelegen, ist es sinnvoll, auch Kombinationen von Zielen und Strategien als diagnostische Modelle zu bezeichnen. Solche Kombinationen beruhen oft auf grundlegenden theoretischen Positionen oder Modellvorstellungen, die über die eigentliche Diagnostik hinaus gehen.
Amelang und Schmidt-Atzert (2006) unterscheiden zusätzlich zwei Arten von Diagnostik nach ihren Anwendungsfeldern. In der Schule und im Arbeitsleben treten immer wieder gleiche Fragestellungen auf, die überwiegend mit Routinemethoden beantwortet werden können. Man spricht in solchen Situationen von institutioneller Diagnostik (Cronbach & Gleser, 1965). Daneben gibt es die individuelle Diagnostik, bei der angeregt durch unterschiedliche Fragestellungen der diagnostische Prozess individuell geplant werden muss. Solche Situationen finden sich vor allem im Bereich der klinischen Psychologie, aber auch in der schulpsychologischen Einzelfallberatung. Natürlich wird Diagnostik auch in vielen Bereichen der psychologischen Forschung eingesetzt. Beispielsweise kann man die Wirksamkeit verschiedener Unterrichtsmethoden nur beurteilen, wenn man deren Aus-wirkungen auf die Kompetenzen, Interessen und Einstellungen der Schüler/inne/n misst.
Im Folgenden werden die gebräuchlichsten Einteilungen vorgestellt. Man kann diese Einteilungen auch als Dimensionen diagnostischer Tätigkeit bezeichnen. Sie bestehen alle aus Begriffspaaren. Solche Paare werden von den meisten Menschen spontan als Gegensätze interpretiert. Und in der Tat werden manche dieser Unterscheidungen bis heute kontrovers diskutiert (Selektionsdiagnostik vs. Modifikationsdiagnostik; s. Ingenkamp & Lissmann, 2005). Manche dieser Begriffspaare bezeichnen aber auch Sachverhalte, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern eher ergänzen (normorientierte vs. kriterienorientierte Diagnostik). Man spricht auch davon, dass sie in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Und schließlich ist es in der Realität oft so, dass das Begriffspaar die Extrempole eines Kontinuums markiert, auf dem verschiedene Mischformen angesiedelt sind.
3.1 Ziele der Diagnostik
Das in der PPD meist diskutierte Gegensatzpaar bezeichnet zwei grundlegende Zielsetzungen von Diagnostik: Selektion und Modifikation. Selektionsdiagnostik wird dazu verwendet, Personen oder Bedingungen auszuwählen. Bei der Personenselektion geht es meist darum, Personen zu identifizieren, die für bestimmte Dinge geeignet sind, z.B. eine Schulart, Studienplätze oder Stellen. Im einfachsten Fall wird dazu ein einzelnes Merkmal und eine Grenze festgelegt, bei deren Überschreitung der Merkmalsträger als geeignet betrachtet wird. Denkbar sind aber auch Vorgehensweisen, bei denen mehrere Merkmale, ggf. auch in abgestufter (sequentieller) Form herangezogen werden. Da es sich bei den Dingen, für die Personen ausgewählt werden oft um knappe und begehrte Ressourcen handelt, wurde die Selektionsdiagnostik immer wieder infrage gestellt. Man kann sich beispielsweise fragen, inwieweit es sinnvoll ist, den Zugang zu einem Medizinstudium allein von der Abiturnote abhängig zu machen. Weniger umstritten ist die Bedingungsselektion, bei der die erhobenen Merkmale dazu verwendet werden, für die Merkmalsträger geeignete Bedingungen auszuwählen, etwa wenn Vortest-Ergebnisse in einer Übungssoftware dazu herangezogen werden, für die Übenden geeignete Aufgaben auszuwählen.
Das Ziel bei der Modifikationsdiagnostik besteht darin, geeignete Maßnahmen zu finden, um beim Merkmalsträger eine Verhaltensänderung herbei zu führen. Auch hier kann wieder bei der Person angesetzt werden (Verhaltensmodifikation) oder an den äußeren Bedingungen (Bedingungsmodifikation). So ist es etwa bei der Behandlung von Lese- und Rechtschreib-schwächen wichtig, herauszufinden, welchen Entwicklungsstand die betroffenen Kinder erreicht haben.
Rein formal lassen sich Modifikationsdiagnostik und Selektionsdiagnostik kaum trennen, weil beide dazu dienen, Entscheidungen auf eine rationale Basis zu stellen, und Entscheidungen formal in der Auswahl einer Option aus mehreren möglichen Optionen bestehen. (Um dies nachzuvollziehen, vergleichen Sie bitte Bedingungsselektion und Bedingungsmodifikation!). Der Unterschied besteht eher in der Bewertung der Zielsetzungen: hier die auf den einzelnen Menschen bezogene Fürsorge, die das Bestmögliche für diesen Menschen anstrebt (Modifikationsdiagnostik) und dort die kalte, anonyme Auswahl aufgrund eines einzelnen Kriteriums, bei der die meisten Betroffenen leer ausgehen (Selektionsdiagnostik).
Tabelle 1.1: Kriterien für die Diagnostik unter unterschiedlichen Zielsetzungen (in Anlehnung an Ingenkamp & Lissmann, 2005) |
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Selektionsdiagnostik (Gesellschaftlich geforderte Qualifikationen) |
Modifikationsdiagnostik (Optimierung des Lehr- und Lernprozesses) |
Gesellschaftlicher Konsens über Zielkriterien notwendig |
Gruppeninterner Konsens über Zielkriterien reicht aus |
Seltene Diagnose reicht aus |
Häufige Diagnose erwünscht |
Erfassung überdauernder Merkmale notwendig |
Erfassung situationsabhängiger Merkmale sinnvoll |
Überregionale Vergleichbarkeit der Messergebnisse notwendig |
Gruppeninterne Vergleichbarkeit reicht oft aus |
Langfristige Prognose erwünscht |
Kurzfristige Prognose reicht aus |
Geringe Beachtung der Lernbedingungen erforderlich |
Hohe Beachtung der Lernbedingungen notwendig |
Ingenkamp und Lissmann (2005) weisen darauf hin, dass es in pädagogischen Kontexten kaum reine Selektionsdiagnostik gibt, da selbst die umstrittene Auswahl oder Zuweisung von Schüler/innen zu den verschiedenen Schularten mit der Absicht verbunden ist, die unterschiedlichen Menschen in der jeweiligen Schulart besser fördern zu können. Konkrete diagnostische Aktivitäten sind nach Auffassung dieser Autoren jeweils zwischen zwei Extrempolen angesiedelt, die auf der einen Seite durch Gruppenbezug und organisatorische Verfestigung (Selektion) und auf der anderen Seite durch individuellen Bezug und organisatorische Flexibilität (Modifikation) gekennzeichnet sind.
Bedeutsam ist die Unterscheidung von Selektionsdiagnostik und Modifikationsdiagnostik für Ihr Rollenverständnis als Lehrerin oder Lehrer, da beide Ziele zu Ihren Berufsaufgaben gehören. Die von Lehrkräften erteilten Zensuren haben faktisch eine selektive Funktion und werden in vielen Fällen auch dazu führen, dass Schüler von Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Dieser Aspekt der Lehrerrolle ist bei vielen an Schule Beteiligten unbeliebt und kann am besten ins Rollenbild integriert werden, wenn er mit großer Sorgfalt und gerecht ausgefüllt wird. Hierbei ist die Einhaltung diagnostischer Gütekriterien wie Objektivität oder Messgenauigkeit besonders wichtig. Andererseits wird es auch Ihre Aufgabe sein, Schüler/innen bestmöglich zu fördern und dazu ist es nötig, deren Lernvoraussetzungen zu diagnostizieren. Es wäre zu wünschen, dass die in diesem Zusammenhang erfassten Leistungen nicht in die Zeugnisnote eingingen (also nicht zur Personenselektion herangezogen würden), was in der Praxis oft schwer umzusetzen ist.
Die beiden Pole diagnostischer Ziele sind auch mit unterschiedlichen Anforderungen an die Messung verbunden (s. Tabelle 1.1). Bei der Selektionsdiagnostik ist ein gesellschaftlicher Konsens über die Zielkriterien nötig, die Messergebnisse sollen überregional vergleichbar sein und es sollen überdauernde Merkmale gemessen werden (Ingenkamp & Lissmann, 2005). All diese Dinge sind für die Modifikationsdiagnostik nicht so bedeutsam. Aus diesen Gründen gibt es in manchen Ländern (z.B. Großbritannien) eine institutionalisierte Trennung der diagnostischen Funktionen: Lehrer/innen sind für die Modifikationsdiagnostik zuständig und externe Prüfungsorganisationen für die Selektionsdiagnostik.
3.2 Diagnostische Strategien
Die Unterscheidung zwischen Statusdiagnostik und Prozessdiagnostik bezieht sich darauf, ob man sich mit der einmaligen Erfassung eins Zustandes (Status) begnügt, oder ob Veränderungen diagnostiziert werden sollen (Prozess). Die Verwandtschaft mit den eben dargestellten Zielen Selektion und Modifikation ist offensichtlich: Im Rahmen von Modifikationsdiagnostik wird man kaum umhin kommen, Veränderungen zu registrieren. Dabei treten verschiedene methodische Probleme auf, die hier nicht näher erläutert werden können (s. dazu Jäger & Petermann, 1999, Unterkap. 6.2). Zur Selektion genügt dagegen die Erfassung eines Zustandes. Voraussetzung dafür, dass Statusdiagnostik überhaupt sinnvoll ist, ist die Annahme, dass es so etwas wie zeitlich überdauernde Eigenschaften gibt. Diese Annahme ist, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, keineswegs selbstverständlich.
Die Unterscheidung zwischen normorientierter und kriterienorientierter Diagnostik betrifft den Vergleichsmaßstab, der bei der Beurteilung von Messergebnissen angelegt wird. Beim normorientierten Vorgehen vergleicht man ein individuelles Ergebnis mit den Ergebnissen einer Vergleichsstichprobe, die möglichst repräsentativ für die interessierende Population sein sollte. Mit solchen Vergleichen kann man feststellen, wie stark das erfasste Merkmal vom Mittelwert in der Population abweicht, z.B. ob es als überdurchschnittlich betrachtet werden kann. Beim kriterienorientierten Vorgehen wird das individuelle Ergebnis mit einem sachlich definierten Kriterium verglichen. Ein Beispiel hierfür ist die verbreitete Regel, nach der man eine Klausur dann besteht, wenn man mindestens die Hälfte der maximalen Punktzahl erzielt. Weitere Details zu dieser Unterscheidung sowie Vor- und Nachteile des jeweiligen Vorgehens werden in Lehreinheit 4 behandelt.
3.3 Modelle der Diagnostik
Eigenschaftsdiagnostik und Verhaltensdiagnostik können als Modelle der Diagnostik angesehen werden (Amelang & Schmidt-Atzert, 2006; Ingenkamp & Lissmann, 2005), bei denen sich Ziele, Strategien und auch der theoretische Hintergrund unterscheiden. In der Eigenschaftsdiagnostik geht man davon aus, dass sich Menschen durch eine Reihe von Eigenschaften (engl. traits) charakterisieren lassen. Diese Auffassung entspricht dem Alltagsdenken vieler Menschen, wurde aber auch in der Wissenschaft von Autoren wie Gordon W. Allport (1961), Raymond B. Cattell (1978) oder Hans Jürgen Eysenck (Eysenck & Eysenck, 1987) vertreten. In Eigenschaftstheorien wird dem Verhalten transsituative Konsistenz zugeschrieben, d.h. Eigenschaften wie etwa Extraversion, Ängstlichkeit oder Intelligenz sollten in unterschiedlichen Situationen zu ähnlichem Erleben oder Verhalten führen. So erwartet man von einem extravertierten Menschen, dass er sowohl fremden als auch vertrauten Personen gegenüber offen ist und große Gesprächsanteile übernimmt. Mit der Kenntnis von Eigenschaften verbindet man die Erwartung, künftiges Erleben und Verhalten vorhersagen zu können. Da Eigenschaften nicht direkt beobachtbar sind, muss man bei deren Messung auf Indikatoren zurückgreifen, die auf die Ausprägung der Eigenschaft schließen lassen. Diese Indikatoren werden meist per Fragebogen abgefragt. Näheres zu unbeobachtbaren Variablen behandeln wir im nächsten Abschnitt.
Die Verhaltensdiagnostik ist eng mit der theoretischen Strömung des Behaviorismus verbunden (z.B. Watson, 1913; Skinner, 1953), bei dem unbeobachtbare Variablen aus den Theorien ausgeschlossen werden sollten, da deren Annahme und Erfassung als zu spekulativ galten. Als beste Grundlage zur Vorhersage zukünftigen Verhaltens wird in der Verhaltenstheorie vergangenes Verhalten angesehen. Dementsprechend geht es bei der Verhaltensdiagnostik darum, möglichst repräsentative Stichproben des interessierenden Verhaltens zu erheben, aber auch Daten zu den situativen Bedingungen und den Konsequenzen. Die wichtigste Methode hierbei ist die systematische Beobachtung. Eine wichtige Rolle spielt die Verhaltensdiagnostik bei der Therapie von Angststörungen (Phobien). Auch praktische Prüfungen, z.B. Fahrprüfungen oder Vorspiele auf einem Instrument, können als Verhaltensdiagnostik angesehen werden.
Der im 20. Jahrhundert teilweise vehement ausgetragene Streit zwischen diesen beiden Grundpositionen ist heute beigelegt. Theorien sind inzwischen kaum mehr denkbar ohne unbeobachtbare Variablen, und deren Erfassung hat ein hohes methodisches Niveau erreicht. Dennoch gilt die Verhaltenstheorie in manchen Kontexten (klinische Psychologie, pädagogische Interaktion) immer noch als angemessene und nützliche Sichtweise.
4. Wissenschaftstheoretische Grundlagen
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5. Der diagnostische Prozess
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6. Literaturverzeichnis
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7. Links
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8. Übungsfragen
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