1. Einleitung

In pädagogischen Kontexten gibt es zahllose Gelegenheiten, bei denen Erziehende ihre Entscheidungen auf Informationen gründen, die sie über beteiligte Personen oder über die Situation haben. Dies gilt besonders im Bereich der Schule – auf den wir uns im Folgenden beschränken wollen. Schon ganz am Anfang der Schulzeit gibt es Untersuchungen zur Schuleignung, eventuelle Hoch- oder Minderbegabungen und Teilleistungsschwächen sollen festgestellt werden; am Ende der Grundschulzeit muss der Übertritt in weiterführende Schulen geregelt werden; Fördermaßnahmen werden abhängig von Testergebnissen durchgeführt; bei schwerwiegenden Problemen werden einzelne Schüler systematisch beobachtet und umfassend psychologisch untersucht; und nicht zuletzt versuchen Lehrkräfte tagtäglich, Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler zu erfassen. All diese Beispiele sind mögliche Anwendungsgebiete der Pädagogisch-Psychologischen Diagnostik. In der Praxis werden pädagogische Entscheidungen leider oft auf der Basis unzulänglicher Informationen getroffen: Man verlässt sich auf subjektive Einschätzungen, Erzählungen Dritter, oder entwirft Schulaufgaben mehr oder weniger intuitiv. Das Anliegen dieses virtuellen Seminars ist es, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass Sie Ihre pädagogischen Entscheidungen, wo immer möglich, auf objektiv gewonnene und exakte Informationen gründen können. Das Instrumentarium dafür stellt die Pädagogisch-Psychologische Diagnostik bereit. Sie sollten auch ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass eine ungenaue Informationsbasis Fehlentscheidungen wahrscheinlich macht, die für die Betroffenen ernste Folgen haben können.

Beispiele von Größen, die im Rahmen Pädagogisch-Psychologischer Diagnostik gemessen werden können:

  • Intelligenz
  • spezifische Begabungen (z.B. Musikalität)
  • Lernvoraussetzungen (v.a. Vorwissen)
  • Ängstlichkeit
  • Prüfungsangst
  • Stressverarbeitung
  • Klassenklima
  • Generalisierte Erfolgserwartungen (Selbstkonzept)
  • Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten

Da die Pädagogisch-Psychologische Diagnostik (PPD) wesentliche theoretische Konzepte und Aussagen sowie die meisten Methoden mit der Psychologischen Diagnostik (PD) gemeinsam hat, ist zunächst zu klären, in welchem Verhältnis diese zwei Disziplinen zueinander stehen. Während Ingenkamp in der Pädagogischen Diagnostik eine eigenständige Disziplin sieht  (z.B. Ingenkamp & Lissmann, 2005), betonen andere Autoren die Nähe zur Psychologischen Diagnostik. Nach Klauer (1982) dient die PPD dazu, pädagogische Entscheidungen mit Hilfe psychologischer Mittel zu treffen. PPD ist also PD in pädagogischen Kontexten. Beide Disziplinen haben auch gemeinsame historische Wurzeln, vor allem in der Intelligenz-messung. Bereits in der Antike (beschrieben z.B. von Platon oder Aristoteles) gab es Auswahlprüfungen nicht nur zur Erfassung körperlicher, sondern auch intellektueller Tüchtigkeit (Heller, 2000). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben in Paris Binet und Simon (1908) wichtige Pionierarbeit zur systematischen Erfassung des intellektuellen Entwicklungs-standes von Schulkindern geleistet, und zwar auch mit dem Ziel, schwächere Schüler besser fördern zu können. Man kann also sagen, dass pädagogische Fragestellungen wichtige Impulse für die Entwicklung der PD geliefert haben.

Eine allgemein anerkannte Definition der Psychologischen Diagnostik (PD) stammt von Jäger und Petermann (1999). Sie lautet:

"Psychologische Diagnostik ist das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren. Solche Entscheidungen und Handlungen basieren auf einem komplexen Informationsverarbeitungsprozess. In diesem Prozess wird auf Regeln, Anleitungen, Algorithmen usw. zurückgegriffen. Man gewinnt damit psychologisch relevante Charakteristika von Merkmalsträgern und integriert gegebene Daten zu einem Urteil (Diagnose, Prognose). Als Merkmalsträger gelten Einzelpersonen, Personengruppen, Institutionen, Situationen, Gegenstände etc." (S. 11)

Die Definition beginnt mit der Aussage, dass im Rahmen der PD keine vagen Eindrücke, Vorurteile, oder Informationen aus zweiter Hand verarbeitet werden, sondern systematisch gesammelte und aufbereitete Informationen, um Entscheidungen fundiert treffen zu können. Besonders betont wird der Prozesscharakter der PD. Damit ist gemeint, dass sich die PD nicht auf Anleitungen und Algorithmen zur Erhebung und Auswertung von Daten beschränkt, sondern von der Problemstellung bis zur Urteilsbildung viele zeitlich aufeinander folgende Schritte umfasst. Den Schritten des Diagnostischen Prozesses ist weiter unten ein eigener Abschnitt gewidmet. Weit gefasst ist auch der Kreis der Merkmalsträger. Auch wenn dies meist Einzelpersonen sind, können auch Merkmale von größeren Einheiten diagnostiziert werden, etwa das Klassenklima oder die Kommunikationsstruktur einer Schule. Regeln, Anleitungen und Algorithmen beziehen sich auf den gesamten Ablauf, aber auch auf das Vorgehen bei der Informationssammlung, der Erstellung neuer diagnostischer Instrumente (Tests, Fragebogen usw.), Auswertung und Interpretation von Daten.