2. Formen der Minderbegabung

2.3 Geistige Behinderung

Betrachten wir zunächst wieder die Statistiken der Kultusministerkonferenz (KMK, 2018, Tab. 2): 2017/18 gab es danach bundesweit etwa 89.000 Schülerinnen und Schüler denen eine geistige Behinderung zugeschrieben wird. Der Anteil der Gruppe an der gesamten Schülerschaft beträgt 1,2% (KMK, 2018, Tab. 2) und an der Gesamtzahl an Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf 16%. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung, die an Förderschulen unterrichtet werden, liegt derzeit bei fast 90 %. Entsprechend liegt der Anteil integrativ beschulter Kinder mit geistiger Behinderung bei etwa 10 % (s. KMK, 2018, Tab. A 2).

Es gibt einen unklaren Zwischenbereich zwischen geistiger Behinderung und Lernbehinderung, der in der ICD-10-Kategorie F70: "leichte Intelligenzminderung" seinen Niederschlag findet. Gemäß ICD-10 ist in diesem Grenzbereich zwischen Lern- und geistiger Behinderung die kognitive und sprachliche Entwicklung verzögert, jedoch erreichen betroffene Personen ein Leistungsniveau, das für alltägliche Anforderungen und eine normale Konversation genügt. Besondere Probleme lägen in der Schul- und Berufsausbildung (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005). Der Intelligenzbereich wird auf 50 bis 69 angesetzt, was bei Zugrundelegung der Normalverteilung in der Intelligenzleistung einem Bevölkerungsanteil von 1,89% entspräche. Dieser Anteil wäre deutlich größer als die gesamte Personengruppe an Schülern mit geistiger Behinderung, weswegen auch hier eine reine Orientierung am IQ nicht brauchbar wäre.

Die ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005) führt zusätzlich die Ausprägungsgrade mittelgradige (IQ 35 bis 49), schwere (IQ 20 bis 34) und schwerste (IQ < 20) Intelligenzminderung1auf. Mit Zunahme des Ausprägungsgrades nehmen die Fähigkeit zum Erwerb der Sprache, sowie motorische, kommunikative und kognitive Fähigkeiten ab. Psychische Störungen (z. B. Autismus), neurogene Erkrankungen (z. B. Epilepsie) und körperliche Einschränkungen treten demgegenüber gehäuft auf. Auch bei intensiver Begleitung ist ab einer schweren Intelligenzminderung eine selbstständige Lebensführung in einer eigenen Wohnung so gut wie nicht mehr möglich.

Die nach wie vor in Klassifikationssystemen (und auch in der ICD-10) zu findenden veralteten Begriffe "Schwachsinn", "Oligophrenie", "Debilität", "Imbezilität" und "Idiotie" werden von Betroffenen bzw. deren Eltern, Angehörigen und im Behindertenbereich tätigen Fachleuten zurecht als extrem stigmatisierend und ehrverletzend empfunden und sollten nur deswegen bekannt sein, damit ältere Literatur zum Thema verstanden werden kann. Ihre Verwendung muss unter allen Umständen vermieden werden. Die im Entstehen begriffene ICD-11 wird deshalb auch auf diese Begriffe verzichten und stattdessen von Disorders of intellectual development(06A00) sprechen, mit den Ausprägungsgraden mildmoderatesevereund profoundsowie den „Restkategorien“ provisionalund unspecified. Im Sprachgebrauch der internationalen Fachgesellschaften ist auch die Bezeichnung Developmental Disabilityhäufig anzutreffen.

1Auch in diesem Fall muss auf die Unplausibilität der IQ-Definitionen hingewiesen werden. Der Wertebereich von Intelligenztests endet üblicherweise bei einem IQ von 55, sodass unter diesem Grenzwert rein praktikabel kein IQ mehr angemessen erhoben werden kann. Darüber hinaus ist es fraglich, ob nicht die Intelligenz im Bereich der geistigen Behinderung eine andere Qualität besitzt und damit gängige Intelligenzmodelle ihre Aussagekraft verlören. Ein anderer Problemaspekt: Mit Zugrundelegung der Normalverteilung des IQ bei einer Weltbevölkerung von ca. 6 Milliarden Menschen dürfte es lediglich 290 Menschen mit einem IQ unter 20 geben, eine Zahl, die bereits innerhalb der Institutionen im Behindertenbereich in Würzburg übertroffen wird – letzteres alles unter der kühnen Annahme, solche Intelligenz-messungen doch zu akzeptieren.

Analog zu oben: Der Begriff „geistige Behinderung“ ist in der offiziellen Terminologie weitgehend ersetzt durch „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“. Die entsprechenden Schulen heißen „Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.“   In der wissenschaftlichen Literatur ist der Begriff „geistige Behinderung“ teilweise beibehalten, teilweise im Umbruch.  (s. z. B. Fischer & Ratz, 2017; Ratz, 2017).  


Exkurs I


Lernstörungen

Eine Sonderform von Minderbegabung stellen Lernstörungen dar. Sie bezeichnen das Scheitern des Erwerbs oder chronisch persistierende Schwierigkeiten im Erwerb vornehmlich des Lesens, des Schreibens und/oder des Rechnens (ICD-10: F81 "umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten"). Der verwandte Begriff Teilleistungsstörungen stammt aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie (s. z. B. Martinius & Amorosa, 1994) und bezeichnet dort die Störung oder den selektiven Ausfall einer psychischen Grundfunktion, wie beispielsweise Teile des Gedächtnisses oder der Aufmerksamkeit. In die Psychologie hat in Abgrenzung davon der Begriff Lernstörung v. a. im Zusammenhang mit der Diagnose von Lese-Rechtschreib-störungen Eingang gefunden.

Lernstörungen werden diagnostiziert, wenn das Intelligenzniveau nicht dem Bereich geistiger Behinderung zuzuordnen ist. Darüber hinaus muss für die Einordnung nach ICD-10 die Lernstörung von Beginn der Schullaufbahn an bestehen und nicht durch äußere Faktoren (Sinnesbehinderungen, mangelnde Beschulung etc.) erklärbar sein. Liegt dabei das Leistungsniveau deutlich unter dem aufgrund der Intelligenz zu erwartenden Niveau, so spricht man von einer Lese-Rechtschreibstörung, Rechenstörung oder einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten (zur Diagnostik von Lernstörungen s. Hasselhorn & Mähler, 2006; AWMF, 2006). Mehr oder weniger synonym werden hierfür die Begriffe Legasthenie (angloamerik.: dyslexia) und Dyskalkulie (angloamerik.: arithmetic [mathematics] disability; beide zusammengefasst: writing-arithmetic disability) gebraucht (Siegel, 2003, S. 472). Ob die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Schulleistung, oder lediglich eine deutlich unterdurchschnittliche Leistung alleine in der Diagnose von Lernstörungen verwendet werden sollte, ist Gegenstand jahrzehntelanger kontroverser Debatten.



Exkurs II


Inselbegabungen

Inselbegabungen stellen gewissermaßen das Gegenteil einer Lernstörung dar. Es handelt sich dabei um besondere Fähigkeiten bei Personen, die ansonsten über ein sehr niedriges Fähigkeits- und Leistungsniveau verfügen (Draaisma, 2006). Man bezeichnet diese Personen als Savants ("Wissende"). Bei den besonderen Leistungen handelt es sich um mitunter verblüffende Fähigkeiten aus den Bereichen Mathematik/Rechnen, Gedächtnis, Sprache, Musik und Kunst (s. z. B. Abb. 7.2; Gemälde eines Künstlers mit geistiger Behinderung). Eine besonders bekannte, aber vollständig fiktionale Figur wird im Film "Rain Man" von Dustin Hoffman gespielt: Ein Mann mit autistischen Zügen, der über außergewöhnliche Gedächtnisleistungen und Rechenfertigkeiten verfügt.

Bei manchen Behinderungsformen, wie beispielsweise dem durch ein defektes Gen verursachten Williams-Beuren-Syndrom, treten Inselbegabungen gehäuft auf. Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom verfügen beispielsweise häufig über besondere sprachliche Leistungen und eine Vorliebe für ungewöhnliche Wörter und phantasievolle Geschichten bei gleichzeitig vorliegender mittelgradiger geistiger Behinderung:

"This is a story about chocolates. Once upon a time, in Chocolate World there used to be a Chocolate Princess. She was such a yummy princess. She was on her chocolate throne and then some chocolate man came to see her. And the man bowed to her and he said these words to her. The man said to her, ‚Please, Princess Chocolate. I want you to see how I do my work. And it's hot outside in Chocolate World, and you might melt to the ground like melted butter. And if the sun changes to a different color, then the Chocolate World - and you won't melt. You can be saved if the sun changes to a different color. And if it doesn't change to a different color, you and Chocolate World are doomed." (Eine Geschichte, erzählt von der 18-jährigen Crystal, zitiert nach Pinker, 1998, S. 62).

Die Leistungen sind vor allem dann beeindruckend, wenn man sie mit dem sonstigen individuellen Leistungsniveau einer Person vergleicht. Die Inselbegabungen bei Menschen mit geistiger Behinderung reichen freilich meist nicht über das Leistungsniveau von normalbegabten Personen hinaus. Die Fälle, wo das doch geschieht, sind dann sehr selten. 

Abbildung 7.2: Gemälde des geistig behinderten Künstlers Tobias Jessberger (Rapsfelder, 1996; http://www.lebenshilfe.de/de/buecher-zeitschriften/buecher/dateien/Bilder_fuer_die_Wand.php)