Minderbegabung
Website: | WueCampus |
Kurs: | vhb - Differentielle und Persönlichkeitspsychologie im Kontext der Schule - Demo |
Buch: | Minderbegabung |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Sonntag, 24. November 2024, 11:50 |
Inhaltsverzeichnis
- Wolfgang Lenhard & Hans-Peter Trolldenier, Würzburg - Minderbegabung, entsprechende Begabungs- und Leistungsförderung
- 1. Einleitung
- 2. Formen der Minderbegabung
- 3. Ursachen
- 4. Institutionelle Förderung und Beschulung
- 5. Spezielle Fördermaßnahmen
- 6. Schluss
- 7. Literaturempfehlungen zu Fördermaßnahmen
- 8. Literaturverzeichnis
- 9. Übungsfragen
Wolfgang Lenhard & Hans-Peter Trolldenier, Würzburg - Minderbegabung, entsprechende Begabungs- und Leistungsförderung
Ziele Kriterien und Merkmale für Minderbegabung kennen und anwenden können, mit den entsprechenden Personengruppen angemessen umgehen können, Konzepte der schulischen Förderung und deren Anwendung kennen. |
1. Einleitung
Der Begriff "Minderbegabung" ist schwer einzugrenzen. Es gibt eine Fülle von Bezeichnungen, die allesamt verschiedene Facetten unterdurchschnittlicher Begabung kennzeichnen. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob "Lernbeeinträchtigungen", "Lernschwächen", "Lernbehinderungen", "Lernstörungen", "Lernschwierigkeiten", "Lernbenachteiligungen" und viele mehr alle dasselbe Phänomen beschreiben oder nicht (Klauer & Lauth, 1997). Darüber hinaus wird hierdurch der Bereich geistiger Behinderung nicht abgedeckt, welcher ebenfalls klar als Minderbegabung bezeichnet werden kann.
Angesichts dieser begrifflichen Unschärfe findet in diesem Text im Wesentlichen eine Orientierung am schulischen System statt, wo der Schwerpunkt auf Förderung und Therapie liegt. Im Zweifelsfall wird auf das bayerische Schulsystem zurückgegriffen. Es werden – dem schulischen System entsprechend – die herkömmlichen Begriffe „Lernbehinderung“ und „geistige Behinderung“ unterschieden, auch wenn sie sich im Wandel befinden.
2. Formen der Minderbegabung
2.1 Der Stellenwert des Begriffs Minderbegabung in internationalen Klassifikationssystemen
2.2 Lernbehinderung
2.3 Geistige Behinderung
2.1 Der Stellenwert des Begriffs Minderbegabung in internationalen Klassifikationssystemen
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Dilling, Mombour & Schmidt, 2005) vier Ausprägungsstufen von Minderbegabung (Kapitel F7, Intelligenzminderung), nämlich
- leichte Intelligenzminderung (F70)
- mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
- schwere Intelligenzminderung (F72)
- schwerste Intelligenzminderung (F73)
Zusätzlich führt sie zwei Restkategorien auf:
- andere Intelligenzminderung für den Fall, dass die Intelligenz
z. B. aufgrund begleitender sensorischer Behinderungen nicht adäquat beurteilt werden kann. (F78)
- nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung, wenn nicht in eine der genannten Kategorien zuzuordnen. (F79)
Nach ICD-10 ist dabei für die Diagnose die Verwendung standardisierter Intelligenztests maßgeblich, wobei sich die abschließende Bewertung auf eine "umfassende Einschätzung der Fähigkeiten und nicht auf einen einzelnen Bereich spezifischer Beeinträchtigung oder Fertigkeit stützen [sollte]" (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005, S. 255). Dabei ermittelte IQ-Werte sollten allerdings eher als Richtlinie verstanden und durch weitere Informationsquellen wie Gespräche mit Eltern und Betreuern, Einschätzungen der sozialen Reife etc. ergänzt werden.
Mit dem Ziel, eine weniger defizitorientierte und damit umfassendere Einschätzung von Behinderung zu ermöglichen, wurde die ICD-10 von der WHO durch die "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF; DIMDI, 2005) ergänzt, die neben individuellen Eigenschaften einer Person, wie z. B. einer konkreten Schädigung des Gehirns auch Kontextfaktoren wie die Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld, die Rolle von Umweltfaktoren und weitere personenbezogene Faktoren mit einbezieht. Es stehen dabei nicht nur Schädigungen oder Einschränkungen im Vordergrund, sondern es werden ebenfalls Ressourcen der Person erfasst und beurteilt, ob und wie diese Ressourcen dabei helfen, eine möglichst normale Funktionsfähigkeit, z. B. im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen. Der Begriff "Funktionsfähigkeit" bezeichnet dabei sowohl körperliche Gesundheit, Leistungsfähigkeit als auch die Möglichkeit, sich in allen für eine Person individuell bedeutsamen Lebensbereichen zu entfalten. Die ICF klassifiziert anders als die ICD-10 nach Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren, die jeweils sowohl positive als auch negative Ausprägungen haben können. Die einzelnen Teilkomponenten bedingen sich gegenseitig und resultieren zusammengenommen in der Ausprägung der Funktionsfähigkeit oder -einschränkung (s. Abb. 7.1).
Abbildung 7.1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten von Behinderungen in der ICF (DIMDI, 2005, S. 23)
2.2 Lernbehinderung
Gemäß den Statistiken der Kultusministerkonferenz wurden im Jahr 2018 insgesamt etwa 175.000 Schüler und Schülerinnen dem „Förderschwerpunkt Lernen“ zugerechnet (KMK, 2018). Das entspricht einem Anteil an der Gesamtschülerschaft von etwa 2,4 % (KMK, 2018), Während noch 2005 die meisten dieser Schüler und Schülerinnen in speziellen Förderschulen für Kinder mit Lernbehinderung beschult wurden, betraf das 2017/18 weniger als die Hälfte (86.200 SuS, 49%). Etwa 89.000 (51%) dem Förderschwerpunkt Lernen zugerechnete Schüler und Schülerinnen besuchten nun im Rahmen inklusiver Maßnahmen eine Regelschule. Der Anteil integrativ beschulter Kinder mit Lernbehinderung nimmt deutlich zu. Er betrug 2005 erst 13,9 % (KMK, 2007). Die Gruppe der lernbehinderten Schüler und Schülerinnen stellt mit 32% die größte Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf dar (KMK, 2018).
Es fällt dabei nicht leicht, genau zu definieren, was Lernbehinderung ist bzw. welche Personengruppen als lernbehindert eingestuft werden (zusammenfassend s. Elbert & Ellinger, 2006). Die ICD-10 hält hierfür keine Kategorie bereit. Während bei einer geistigen und/oder einer körperlichen Behinderung sehr häufig ein klarer körperlicher Befund, wie z. B. genetische oder organische Ursachen, unfallbedingte Schädigungen etc. vorliegen, sind in aller Regel Kinder mit Lernbehinderungen, Sprachbehinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten körperlich gesund.
Verschiedene Autoren aus dem sonderpädagogischen Bereich definieren deshalb Lern-behinderung operational, z. B.:
"Lernbehindert sind Kinder, die eine Sonderschule für Lernbehinderte besuchen" (Klein, 1973, S. 159)
"Lernbehinderung wird vielmehr verstanden als eine derart ausgeprägte, verschärfte Situation negativer Abweichung im schulischen Lernen, dass die Allgemeine Schule, so wie sie im deutschen Bildungssystem existiert, sie nach ihrem Verständnis und Auftrag mit ihren Mitteln und Möglichkeiten (einschließlich zusätzlich aufgewandter Förderung) nicht mehr auf ein erträgliches Ausmaß reduzieren kann und zu tolerieren bereit ist" (Schröder, 2000a, S. 95).
Andere Autoren versuchen Lernbehinderung über die Einschränkung im Lernen zu definieren:
"Als lernbehindert gelten Kinder und Jugendliche, die ein chronisch und durchgehend erniedrigtes schulisches Lernniveau haben, bzw. permanent und relativ umfassend beeinträchtigte schulische Aneignungsprozesse aufweisen" (Kobi, 1980, S. 13).
"Als lernbehindert i. e. S. gelten Personen, die schwerwiegend, umfänglich, langdauernd in ihrem Lernen beeinträchtigt sind und dadurch deutlich normabweichende Leistungs- und Verhaltensweisen aufweisen" (Kanter, 1974, S. 126).
Lernbehinderungen werden in der Regel als überdauernde, umfassende und schwerwiegende Beeinträchtigungen definiert. Eine ungefähre Eingrenzung von Lernbehinderung auf den IQ-Bereich zwischen 65 und 85 gilt als konsensfähig (z. B. Hensle & Vernooij, 2002, S. 189). Diese Angabe muss jedoch mit großer Vorsicht behandelt werden. Zum einen entspricht dieser IQ-Bereich bei normaler Verteilung des IQ einem Bevölkerungsanteil von 14,87 %, also einem Vielfachen des Anteils an tatsächlich als lernbehindert eingestuften Schülern. Zum anderen erklärt ein IQ-Wert nicht, wie Lernprozesse bei einem betroffenen Kind ablaufen und wo konkret Probleme auftreten. Aus psychologischer Sicht darüber hinaus für das Lernen bedeutsam sind unter anderem Probleme im Bereich der Leistungsmotivation(Heckhausen, 1989), des Lernstils bzw. der Metakognitionund Lernregulation (Schröder, 2000b, S. 647). Betreffende Personen weisen häufiger ungünstige Attributionsmuster im Sinne erlernter Hilflosigkeit (Seligman, 1995, S. 103 ff.) auf, zeigen Leistungsangst (Schwarzer, 2000, insbesondere S. 105-117) und haben auch sonst ungünstiger ausgeprägte Determinantender Schulleistung (z. B. Vorwissenslücken; Helmke & Weinert, 1997). Des Weiteren weist die signifikant höhere Intelligenzvon männlichen Lernbehinderten an Sonderschulen darauf hin, dass die bei Jungen häufiger auftretenden externalisierenden Verhaltensstörungen (Aggressivität, Impulsivität ...) die Stellung der Diagnose "lernbehindert" begünstigen. Allgemeiner ausgedrückt, liegt hier ein „Underachievement“ vor, d.h. die Schulleistungen liegen tiefer, als von der Intelligenz her erwartet werden könnte. - Dagegen fallen Mädchen, bei denen häufiger internalisierende Verhaltensstörungen vorliegen, in der Regelschule seltener auf, sodass häufig keine weiterführende Diagnostik durchgeführt wird und etwaige Lernprobleme toleriert werden.
Neben dieser Betrachtung von individuellen Leistungsfaktoren ist besonders im Bereich der Lernbehinderung die Einbeziehung soziodemographischer Faktoren notwendig.
Die Tatsache, dass zwischen 80% und 90% der als lernbehindert eingestuften Kinder aus der „Unterschicht“ kommen (s. z. B. Hensle & Vernooij, 2002, S. 192), verweist darauf, dass lernbehinderte Kinder auch soziokulturell benachteiligt sind und an den Anforderungen der eher auf die Mittelschicht zentrierten Regelschule scheitern (Elbert & Ellinger, 2006).Umgekehrt betrachtet stellt das Aufwachsen in der „Unterschicht“ einen Risikofaktor für die Ausbildung einer Lernbehinderung dar. Dieser hohe Zusammenhang von Schulerfolg und Schichtzugehörigkeit ist – wie PISA 2000 deutlich zeigte – in Deutschland besonders stark ausgeprägt (Baumert & Schümer, 2001, S. 379 ff.). In den nachfolgenden PISA-Studien konnte ein Rückgang des Zusammenhangs festgestellt werden (PISA 2015). Eine weitere Entkoppelung des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft bleibt jedoch wünschenswert.
Aus pädagogischer Sicht kennzeichnen Elbert und Ellinger (2006, S. 330) vier Schwerpunkte, die in Bezug auf Kinder mit Lernbehinderung besonders relevant sind:
- Sie benötigen systematische und sorgfältige Unterstützung beim Lernen und eine gezielte Förderung metakognitiver Fähigkeiten.
- Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und dessen Selbstvertrauen müssen gestärkt werden.
- Lernbehinderte Kinder bedürfen intensiver Erziehung, um eine Passung mit den Anforderungen und Angeboten der Gesellschaft herzustellen.
- Der beruflichen Eingliederung muss besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.
Der Begriff „Lernbehinderung“ ist in dieser Lehreinheit beibehalten, weil er in den herangezogenen wissenschaftlichen Studien noch verwendet ist. In der offiziellen Nomenklatur des Bayerischen Kultusministeriums wird er weitgehend ersetzt durch „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“ und die meisten „Förderschulen zur Lernförderung“ sind integriert in ein „Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen“.
2.3 Geistige Behinderung
Betrachten wir zunächst wieder die Statistiken der Kultusministerkonferenz (KMK, 2018, Tab. 2): 2017/18 gab es danach bundesweit etwa 89.000 Schülerinnen und Schüler denen eine geistige Behinderung zugeschrieben wird. Der Anteil der Gruppe an der gesamten Schülerschaft beträgt 1,2% (KMK, 2018, Tab. 2) und an der Gesamtzahl an Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf 16%. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung, die an Förderschulen unterrichtet werden, liegt derzeit bei fast 90 %. Entsprechend liegt der Anteil integrativ beschulter Kinder mit geistiger Behinderung bei etwa 10 % (s. KMK, 2018, Tab. A 2).
Es gibt einen unklaren Zwischenbereich zwischen geistiger Behinderung und Lernbehinderung, der in der ICD-10-Kategorie F70: "leichte Intelligenzminderung" seinen Niederschlag findet. Gemäß ICD-10 ist in diesem Grenzbereich zwischen Lern- und geistiger Behinderung die kognitive und sprachliche Entwicklung verzögert, jedoch erreichen betroffene Personen ein Leistungsniveau, das für alltägliche Anforderungen und eine normale Konversation genügt. Besondere Probleme lägen in der Schul- und Berufsausbildung (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005). Der Intelligenzbereich wird auf 50 bis 69 angesetzt, was bei Zugrundelegung der Normalverteilung in der Intelligenzleistung einem Bevölkerungsanteil von 1,89% entspräche. Dieser Anteil wäre deutlich größer als die gesamte Personengruppe an Schülern mit geistiger Behinderung, weswegen auch hier eine reine Orientierung am IQ nicht brauchbar wäre.
Die ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005) führt zusätzlich die Ausprägungsgrade mittelgradige (IQ 35 bis 49), schwere (IQ 20 bis 34) und schwerste (IQ < 20) Intelligenzminderung1auf. Mit Zunahme des Ausprägungsgrades nehmen die Fähigkeit zum Erwerb der Sprache, sowie motorische, kommunikative und kognitive Fähigkeiten ab. Psychische Störungen (z. B. Autismus), neurogene Erkrankungen (z. B. Epilepsie) und körperliche Einschränkungen treten demgegenüber gehäuft auf. Auch bei intensiver Begleitung ist ab einer schweren Intelligenzminderung eine selbstständige Lebensführung in einer eigenen Wohnung so gut wie nicht mehr möglich.
Die nach wie vor in Klassifikationssystemen (und auch in der ICD-10) zu findenden veralteten Begriffe "Schwachsinn", "Oligophrenie", "Debilität", "Imbezilität" und "Idiotie" werden von Betroffenen bzw. deren Eltern, Angehörigen und im Behindertenbereich tätigen Fachleuten zurecht als extrem stigmatisierend und ehrverletzend empfunden und sollten nur deswegen bekannt sein, damit ältere Literatur zum Thema verstanden werden kann. Ihre Verwendung muss unter allen Umständen vermieden werden. Die im Entstehen begriffene ICD-11 wird deshalb auch auf diese Begriffe verzichten und stattdessen von Disorders of intellectual development(06A00) sprechen, mit den Ausprägungsgraden mild, moderate, severeund profoundsowie den „Restkategorien“ provisionalund unspecified. Im Sprachgebrauch der internationalen Fachgesellschaften ist auch die Bezeichnung Developmental Disabilityhäufig anzutreffen.
1Auch in diesem Fall muss auf die Unplausibilität der IQ-Definitionen hingewiesen werden. Der Wertebereich von Intelligenztests endet üblicherweise bei einem IQ von 55, sodass unter diesem Grenzwert rein praktikabel kein IQ mehr angemessen erhoben werden kann. Darüber hinaus ist es fraglich, ob nicht die Intelligenz im Bereich der geistigen Behinderung eine andere Qualität besitzt und damit gängige Intelligenzmodelle ihre Aussagekraft verlören. Ein anderer Problemaspekt: Mit Zugrundelegung der Normalverteilung des IQ bei einer Weltbevölkerung von ca. 6 Milliarden Menschen dürfte es lediglich 290 Menschen mit einem IQ unter 20 geben, eine Zahl, die bereits innerhalb der Institutionen im Behindertenbereich in Würzburg übertroffen wird – letzteres alles unter der kühnen Annahme, solche Intelligenz-messungen doch zu akzeptieren.
Analog zu oben: Der Begriff „geistige Behinderung“ ist in der offiziellen Terminologie weitgehend ersetzt durch „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“. Die entsprechenden Schulen heißen „Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.“ In der wissenschaftlichen Literatur ist der Begriff „geistige Behinderung“ teilweise beibehalten, teilweise im Umbruch. (s. z. B. Fischer & Ratz, 2017; Ratz, 2017).
Exkurs I
Lernstörungen
Eine Sonderform von Minderbegabung stellen Lernstörungen dar. Sie bezeichnen das Scheitern des Erwerbs oder chronisch persistierende Schwierigkeiten im Erwerb vornehmlich des Lesens, des Schreibens und/oder des Rechnens (ICD-10: F81 "umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten"). Der verwandte Begriff Teilleistungsstörungen stammt aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie (s. z. B. Martinius & Amorosa, 1994) und bezeichnet dort die Störung oder den selektiven Ausfall einer psychischen Grundfunktion, wie beispielsweise Teile des Gedächtnisses oder der Aufmerksamkeit. In die Psychologie hat in Abgrenzung davon der Begriff Lernstörung v. a. im Zusammenhang mit der Diagnose von Lese-Rechtschreib-störungen Eingang gefunden.
Lernstörungen werden diagnostiziert, wenn das Intelligenzniveau nicht dem Bereich geistiger Behinderung zuzuordnen ist. Darüber hinaus muss für die Einordnung nach ICD-10 die Lernstörung von Beginn der Schullaufbahn an bestehen und nicht durch äußere Faktoren (Sinnesbehinderungen, mangelnde Beschulung etc.) erklärbar sein. Liegt dabei das Leistungsniveau deutlich unter dem aufgrund der Intelligenz zu erwartenden Niveau, so spricht man von einer Lese-Rechtschreibstörung, Rechenstörung oder einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten (zur Diagnostik von Lernstörungen s. Hasselhorn & Mähler, 2006; AWMF, 2006). Mehr oder weniger synonym werden hierfür die Begriffe Legasthenie (angloamerik.: dyslexia) und Dyskalkulie (angloamerik.: arithmetic [mathematics] disability; beide zusammengefasst: writing-arithmetic disability) gebraucht (Siegel, 2003, S. 472). Ob die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Schulleistung, oder lediglich eine deutlich unterdurchschnittliche Leistung alleine in der Diagnose von Lernstörungen verwendet werden sollte, ist Gegenstand jahrzehntelanger kontroverser Debatten.
Exkurs II
Inselbegabungen
Inselbegabungen stellen gewissermaßen das Gegenteil einer Lernstörung dar. Es handelt sich dabei um besondere Fähigkeiten bei Personen, die ansonsten über ein sehr niedriges Fähigkeits- und Leistungsniveau verfügen (Draaisma, 2006). Man bezeichnet diese Personen als Savants ("Wissende"). Bei den besonderen Leistungen handelt es sich um mitunter verblüffende Fähigkeiten aus den Bereichen Mathematik/Rechnen, Gedächtnis, Sprache, Musik und Kunst (s. z. B. Abb. 7.2; Gemälde eines Künstlers mit geistiger Behinderung). Eine besonders bekannte, aber vollständig fiktionale Figur wird im Film "Rain Man" von Dustin Hoffman gespielt: Ein Mann mit autistischen Zügen, der über außergewöhnliche Gedächtnisleistungen und Rechenfertigkeiten verfügt.
Bei manchen Behinderungsformen, wie beispielsweise dem durch ein defektes Gen verursachten Williams-Beuren-Syndrom, treten Inselbegabungen gehäuft auf. Menschen mit Williams-Beuren-Syndrom verfügen beispielsweise häufig über besondere sprachliche Leistungen und eine Vorliebe für ungewöhnliche Wörter und phantasievolle Geschichten bei gleichzeitig vorliegender mittelgradiger geistiger Behinderung:
"This is a story about chocolates. Once upon a time, in Chocolate World there used to be a Chocolate Princess. She was such a yummy princess. She was on her chocolate throne and then some chocolate man came to see her. And the man bowed to her and he said these words to her. The man said to her, ‚Please, Princess Chocolate. I want you to see how I do my work. And it's hot outside in Chocolate World, and you might melt to the ground like melted butter. And if the sun changes to a different color, then the Chocolate World - and you won't melt. You can be saved if the sun changes to a different color. And if it doesn't change to a different color, you and Chocolate World are doomed." (Eine Geschichte, erzählt von der 18-jährigen Crystal, zitiert nach Pinker, 1998, S. 62).
Die Leistungen sind vor allem dann beeindruckend, wenn man sie mit dem sonstigen individuellen Leistungsniveau einer Person vergleicht. Die Inselbegabungen bei Menschen mit geistiger Behinderung reichen freilich meist nicht über das Leistungsniveau von normalbegabten Personen hinaus. Die Fälle, wo das doch geschieht, sind dann sehr selten.
Abbildung 7.2: Gemälde des geistig behinderten Künstlers Tobias Jessberger (Rapsfelder, 1996; http://www.lebenshilfe.de/de/buecher-zeitschriften/buecher/dateien/Bilder_fuer_die_Wand.php)
3. Ursachen
.
3.1 Organische Ursachen
.
3.2 Psychogene Ursachen
.
3.3 Soziodemografische Risikofaktoren
.
4. Institutionelle Förderung und Beschulung
.
4.1 Einführung in die organisatorische Struktur von Förderung und Beschulung
.
4.2 Früherkennung und Frühförderung
.
4.3 Schulvorbereitende Einrichtungen
.
4.4 Diagnose- und Förderklassen
.
4.5 Das Förderschulsystem
.
4.6 Integrative Beschulung
.
5. Spezielle Fördermaßnahmen
.
6. Schluss
.
7. Literaturempfehlungen zu Fördermaßnahmen
.
8. Literaturverzeichnis
.
9. Übungsfragen
.