2. Formen der Minderbegabung

2.1 Der Stellenwert des Begriffs Minderbegabung in internationalen Klassifikationssystemen

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Dilling, Mombour & Schmidt, 2005) vier Ausprägungsstufen von Minderbegabung (Kapitel F7, Intelligenzminderung), nämlich

  • leichte Intelligenzminderung (F70)
  • mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
  • schwere Intelligenzminderung (F72)
  • schwerste Intelligenzminderung (F73)

Zusätzlich führt sie zwei Restkategorien auf:  

  • andere Intelligenzminderung für den Fall, dass die Intelligenz  z. B. aufgrund begleitender sensorischer Behinderungen nicht adäquat beurteilt werden kann. (F78) 
  • nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung, wenn nicht in eine der genannten Kategorien zuzuordnen. (F79)

Nach ICD-10 ist dabei für die Diagnose die Verwendung standardisierter Intelligenztests maßgeblich, wobei sich die abschließende Bewertung auf eine "umfassende Einschätzung der Fähigkeiten und nicht auf einen einzelnen Bereich spezifischer Beeinträchtigung oder Fertigkeit stützen [sollte]" (Dilling, Mombour & Schmidt, 2005, S. 255). Dabei ermittelte IQ-Werte sollten allerdings eher als Richtlinie verstanden und durch weitere Informationsquellen wie Gespräche mit Eltern und Betreuern, Einschätzungen der sozialen Reife etc. ergänzt werden.

Mit dem Ziel, eine weniger defizitorientierte und damit umfassendere Einschätzung von Behinderung zu ermöglichen, wurde die ICD-10 von der WHO durch die "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF; DIMDI, 2005) ergänzt, die neben individuellen Eigenschaften einer Person, wie z. B. einer konkreten Schädigung des Gehirns auch Kontextfaktoren wie die Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld, die Rolle von Umweltfaktoren und weitere personenbezogene Faktoren mit einbezieht. Es stehen dabei nicht nur Schädigungen oder Einschränkungen im Vordergrund, sondern es werden ebenfalls Ressourcen der Person erfasst und beurteilt, ob und wie diese Ressourcen dabei helfen, eine möglichst normale Funktionsfähigkeit, z. B. im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen. Der Begriff "Funktionsfähigkeit" bezeichnet dabei sowohl körperliche Gesundheit, Leistungsfähigkeit als auch die Möglichkeit, sich in allen für eine Person individuell bedeutsamen Lebensbereichen zu entfalten. Die ICF klassifiziert anders als die ICD-10 nach Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren, die jeweils sowohl positive als auch negative Ausprägungen haben können. Die einzelnen Teilkomponenten bedingen sich gegenseitig und resultieren zusammengenommen in der Ausprägung der Funktionsfähigkeit oder -einschränkung (s. Abb. 7.1).


Abbildung 7.1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten von Behinderungen in der ICF (DIMDI, 2005, S. 23)