1. Einführung

1.2. Allgemeines und Ziele des Kurses

Das Schlagwort 21st Century Skills fasst verschiedene Kompetenzen zusammen, die in einer digitalen Gesellschaft für eine aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und für ein produktives Arbeitsleben als entscheidend angesehen werden. Nachdem Routinetätigkeiten in großen Teilen von Maschinen und Computern übernommen werden können, müssen Schülerinnen und Schüler vielmehr in der Lage sein, zu kommunizieren, Informationen auszutauschen und zur Lösung komplexer Probleme zu nutzen, sich an neue Anforderungen und veränderte Umstände anzupassen und innovativ zu sein.

Verschiedene Organisationen und Zusammenschlüsse, wie zum Beispiel die OECD (2018), die Europäische Union (2018) oder die Partnership for 21st Century Skills (P21) (2019) haben Kataloge an Fähigkeiten zusammengestellt, die sich beispielsweise auch in der Rahmenkonzeption kommenden PISA Erhebung 2021 niederschlagen. Zusammenfassend lassen sich folgende Kompetenzen hervorheben (vgl. Maass et. al 2019):

  • anpassungsfähiges und flexibles kritisches Denken und Argumentieren.
  • Informationssuche und –Interpretation.
  • im Rahmen kultureller, sozialer und ethischer Gegebenheiten mit anderen zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten.

Die Nutzung digitaler Werkzeuge und das damit einhergehende Erlernen einer mündigen und verständigen Verwendung digitaler Medien sind hier jeweils mitgedacht und als selbstverständlich angesehen. Die konkreten Möglichkeiten der Förderung dieser doch sehr allgemeinen Kompetenzen im Schulalltag bleibt dabei jedoch zunächst unklar. Aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich deshalb insbesondere mit der Frage, wie Lehrkräfte bei der Implementierung im Unterricht unterstützt werden können. Zum Beispiel hat Geiger (2019) einen Kriterienkatalog entwickelt, der Lehrende bei der Entwicklung und Umsetzung entsprechender Aufgaben innerhalb des regulären Unterrichts unterstützen soll.

Weiterhin schlagen Gravemeijer at al. (2017) vor, dass die 21st Century Skills als Ziele des Mathematikunterrichts verstanden werden sollten. Sie heben dabei die zunehmende Digitalisierung hervor, wodurch es immer wichtiger werde, die zugrundeliegende Mathematik zu begreifen. Zunächst gelte es zu erkennen, wo überhaupt Mathematik realisierbar ist. Anschließend soll das Problem in ein mathematisches Problem übersetzt werden, dort gelöst und die Ergebnisse interpretiert und evaluiert werden. Dies ähnelt sehr stark einem Modellierungsprozess, auf den wir im nächsten Abschnitt eingehen wollen.

Insbesondere beinhaltet dies, sich kritisch mit medialen Inhalten des Internets, aber auch der Print-, Funk- und Fernsehmedien auseinanderzusetzen zu können. Die kritische Reflexion der eigenen, aber auch fremder Modellierungstätigkeit gehört essenziell zum mathematischen Modellieren. In einer Zeit, in der Politik immer wieder von "der Wissenschaft" geleitet ist und mit mathematischen Modellen argumentiert (siehe etwa Covid-19 oder auch dem Klimawandel), sich aber auch Verschwörungstheorien weit verbreiten (und manchmal ganz eigene Modelle verwenden) und gerade durch soziale Medien große Reichweite erzielen können, ist es beinahe täglich nötig, Meldungen, Berichte und Nachrichten kritisch zu hinterfragen.

Mathematisches Modellieren beschäftigt sich damit, zu einer bestimmten Fragestellung aus der Realität mit mathematischen Methoden eine Antwort zu finden. Im Schulkontext wird häufig auch von Realitätsbezug gesprochen, d.h. es werden Aufgaben behandelt, die einen Bezug des mathematischen Inhalts mit einem Problem aus der Realität herstellen.

Beispiele für Fragestellungen:

  • Wie findet man die kürzeste Route für einen Paketboten?
  • Wie lässt sich ein Stadion am schnellsten evakuieren?
  • Ist ein Kreisverkehr verkehrstechnisch günstiger als eine Ampel?
    • …unter welchen Bedingungen ist ein Kreisverkehr im Allgemeinen günstiger?
    • Lässt sich eine Ampelschaltung so optimieren, dass sie einem Kreisverkehr für den gesamten Verkehrsfluss überlegen ist?
  • Wie viele Personen stehen in einem Stau?
  • Wie verbreiten sich Krankheiten in einer bestimmten Bevölkerung aus?

Es geht also u. A. (aber nicht nur) um die Anwendung von Mathematik auf „den Rest der Welt“, wobei die Motivation (meist) aus letzterer kommt. Dies ist auch in den KMK-Bildungsstandards für alle Schulstufen verankert. Für den mittleren Schulabschluss heißt es:

(K3) Mathematisch modellieren

Dazu gehört:

  • den Bereich oder die Situation, die modelliert werden soll, in mathematische Begriffe, Strukturen und Relationen übersetzen,
  • in dem jeweiligen Modell arbeiten,
  • Ergebnisse in dem entsprechenden Bereich oder der entsprechenden Situation interpretieren und prüfen.

Etwas ausführlicher beschrieben geht es also um den Wechsel zwischen Realsituation und mathematischen Begriffen, Resultaten oder Methoden.

  • Konstruieren passender mathematischer Modelle
  • Verstehen und Bewerten vorgegebener Modelle
    • Strukturieren und Vereinfachen gegebener Realsituationen
    • Übersetzen realer Gegebenheiten in mathematische Modelle
    • Interpretieren mathematischer Ergebnisse in Bezug auf Realsituationen
    • Überprüfen von Ergebnissen im Hinblick auf Stimmigkeit und Angemessenheit
Bereits auf den ersten Blick finden sich Schnittmengen zwischen dem mathematischen Modellieren und den 21st Century Skills.

Ziele des Kurses:

  • praktisch: vielfältige Beispiele kennenlernen und selbst modellieren: „Nur wer selbstständig unterschiedliche Probleme aus vielfältigen Kontexten modelliert hat, kann später im Unterricht oder in Universitätsseminaren reflektiert und erfahrungsreich mit den Lernenden umgehen.“ (Boromeo-Ferri ea. 2013, S.3)
  • theoretisch: Wissen über Modelle, Modellierungskreisläufe und (Teil-)kompetenzen des Modellierens; dadurch auch Reflexion der eigenen Modellierungstätigkeit
  • schulbezogen, aber mit Blick auf die Schule: Kennenlernen von bewährten Modellierungsaufgaben für den Schulunterricht.
  • Darüber hinaus steht die Schulung einer kritischen Reflexionsfähigkeit von eigenen und fremden Modellierungen und Modellen als einem zentralen 21st Century Skill im Zentrum des Kurses.

Gerade die kritische Reflexionsfähigkeit muss häufig in der Auseinandersetzung mit Aussagen aus den Medien angewendet werden, die oft nur die stark verkürzten Ergebnisse oder Interpretationen einer längeren Modellierung darstellen. Folgendes Beispiel zu steigenden Covid-19-Fallzahlen in der Schweiz zeigt etwa, dass "exponentielles Wachstum" und die "Verdoppelung" der Fallzahlen beinahe gleichgesetzt wird, ohne dass die Bedingungen dieses Zusammenhangs genauer erklärt werden.

Zitat:
Insbesondere in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte sei ein “exponentielles” Wachstum der Erkrankungen zu verzeichnen. Anfang Juli gab es an einem Tag sogar 137 bestätigte neue Fälle. Gut zwei Wochen davor waren es nur 17 gemeldete Fälle innerhalb eines Tages. Das Bundesamt für Gesundheit verzeichnete in den letzten beiden Wochen des Junis insgesamt mehr als eine Verdoppelung der Fallzahlen. Für das Bundesamt steht auch fest, wer für die Häufung die Verantwortung trägt: “Seit Mitte Juni ist es wiederholt zu einer Ausbreitung des neuen Coronavirus in der Schweiz gekommen, nachdem infizierte Personen eingereist sind.”

Quelle: www.rnd.de (Meldung vom 09.07.2020)

Hier muss kritisch geprüft werden, ob die genannten Zahlen den Schluss auf ein exponentielles Wachstum zulassen. Darüber hinaus stellen sich u.A. die Fragen, ob "mehr als eine Verdoppelung der Fallzahlen" einem exponentiellen Wachstum entspricht, ob dies immer so ist oder ob es sich nicht nur um ein spezielles exponentielles Wachstum handelt, das in der Krisensituation als Schwelle zu einer besonders gefährlichen Entwicklung gesehen werden kann.

Im zweiten Kapitel beschäftigen wir uns verstärkt damit, was Modelle eigentlich sind und wie der Modellierungsprozess beschrieben werden kann.