Demokurs: 21st Century Skills: Mathematisches Modellieren

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Llibre: Demokurs: 21st Century Skills: Mathematisches Modellieren
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Data: dijous, 4 de juliol 2024, 04:24

1. Einführung

21st Century Skills: Mathematisch Modellieren

Im Kapitel Einführung finden Sie:

  1. Einführungsbeispiel: Modellierung einer Skateboardrampe
  2. Allgemeines und Ziele des Kurses
Die hier behandelten Inhalte stellen notwendige Grundlagen und Voraussetzungen zum Besuch und Verständnis mathematischer und mathematikdidaktischer Veranstaltungen dar.

1.1. Einführungsbeispiel

Was ist eigentlich Mathematisches Modellieren? Folgendes Beispiel aus dem Wissenschaftsjahr 2008 illustriert worum es geht:

Abbildung 1 - Quelle: Link

Dieses Beispiel zeigt, dass sich Mathematik verwenden lässt, um einen Ausschnitt aus der Realität zu beschreiben. Manchmal mag das auf den ersten Blick künstlich und erzwungen wirken, denn was hilft es dem Skateboarder, wenn er weiß, dass seine Flugkurve grob einer Parabel folgt? Viele professionelle Skateboarder streben danach, die bisherigen Grenzen des Sports zu erweitern. Wie in jedem anderen Sport auch gilt bei der Jagd nach Rekorden häufig: höher, schneller, weiter. Der Skateboarder Dany Way stellte sich im Jahr 2003 die Frage, ob er nicht über die chinesische Mauer springen und damit einen neuen Rekord aufstellen könnte. Eine Modellierung dieser Situation mit Schülerinnen und Schüler während einer Projektwoche 2016 zeigt, dass diese Frage durchaus auch für Nichtskateboarder*innen spannend und für den Mathematikunterricht reichhaltig ist.

Kann man mit einem Skateboard über die chinesische Mauer springen?

Zunächst gilt es, sich einige Fragen zur Mauer selbst und zu verschiedenen Sprungvarianten zu stellen und zu beantworten: Wie hoch und wie breit ist die Mauer? Die Mauer variiert in der Höhe zwischen 4 und 16 Metern (6 bis 9 Meter im Gebiet um Peking), während die Breite im Normalfall zwischen 4 und 8 Metern liegt. Das bedeutet, dass man sich für die Beantwortung der Frage entscheiden muss, welchen Wert man verwenden möchte.

Situationsmodell

Wie soll der Skateboarder über die Mauer springen? Ohne Zuhilfenahme einer Rampe wird es kein Mensch schaffen, mit einem normalen Skateboard vier Meter hoch zu springen. Eine Rampe kann allerdings ganz unterschiedlich gebaut sein: Der Absprungpunkt könnte möglichst nah am Boden oder sogar über der Mauerkrone liegen. Auch der Absprungwinkel lässt sich durch die Höhe und den Winkel der Absprungrampe beliebig festlegen. Je nachdem, welche Variante gewählt wird, ergeben sich unterschiedliche Antworten auf die Frage.

Für die folgende Modellierung legen wir fest: Der Absprungpunkt soll nicht oberhalb der Mauerkrone liegen. Für die Mauer nehmen wir eine Höhe von 13 Metern und eine Breite von 21 Metern an (Die hier genannten Werte orientieren sich am Sprung von Dany Way). Alle anderen Werte für die Rampe bestimmen wir anhand dieser Festlegung minimal. Die Form der Rampe orientiert sich wiederum am Original und sieht schematisch folgendermaßen aus:

Eine Rampe lässt sich in der Seitenansicht mathematisch als Graph einer Funktion beschreiben. Für eine komplexe Rampe wird man zusammengesetzte Funktionen verwenden, um möglichst nah an die Realität heranzukommen. Wie man im Bild erkennen kann, ist der Anfang der Anfahrtsrampe ziemlich linear im Verlauf und geht erst nahe am Boden in eine gebogene Form über. Für den Bogen hat man auch verschiedene Möglichkeiten, so könnte man nach einer Parabel suchen oder einen Kreisbogen verwenden. Eine sinnvolle Bedingung ist, dass der Übergang zwischen den beiden Funktionsstücken glatt ist, d.h. dass der Skateboarder keinen allzu großen Ruck beim Übergang spürt.

Mathematisch lässt sich dies mithilfe der Ableitungen der beiden Funktionsterme untersuchen. Nur wenn die Ableitungen im Punkt des Zusammentreffens identisch sind, ist der Übergang glatt, d.h. es gibt keinen Knick.

Schülerinnen und Schüler müssen nach der entsprechenden Ableitung auch noch weitere Parameter des gesuchten Funktionsgraphen bestimmen, im Falle eines Kreisbogens z.B. den zugehörigen Mittelpunkt.

Anstatt Rechnungen selbst durchzuführen, kann man auch mit Hilfe eines Computerprogramms wie GeoGebra die Situation modellieren und experimentieren, welche Parameter für die verschiedenen Funktionsgraphen zu einer Lösung des Problems führen.

In eine solche Simulation gehen natürlich ebenfalls viele Überlegungen und Annahmen mit ein, etwa eine Festlegung für die maximale Höhe der Anfahrtsrampe sowie deren Winkel. Aber auch der Flug des Skateboarders muss als schräger Wurf modelliert werden. Dafür gilt:

Mathematisierung / Erstellung eines mathematischen Modells

Physikalisches

Potentielle Energie: \(E_{pot} = m \cdot g \cdot h \)

Kinetische Energie: \(E_{kin} = \frac{1}{2} \cdot m \cdot v^2 \)

Zeit-Ort-Gesetze: \(x(t) = v_0 \cos (\alpha) \cdot t,\quad y(t) = y_0 + v_0 \sin (\alpha) \cdot t - \frac{1}{2} \cdot g \cdot t^2 \) mit \(v_0\): Absprunggeschwindigkeit, \( \alpha \): Absprungwinkel

Unter Vernachlässigung der Reibung und des Luftwiderstands gilt, dass die Änderung der potentiellen Energie zwischen dem höchsten Punkt der Anfahrtsrampe und der Spitze der Absprungrampe in kinetische Energie umgewandelt wird.

Ziel ist es, dass der Skateboarder die Mauer mit Breite 22m überwinden können soll. Die Absprunghöhe legen wir auf die Höhe der Mauerkrone. Dann muss der Skateboarder in x-Richtung mindestens 22m weit fliegen, um nicht auf der Mauer zu landen. Mit diesen Überlegungen lässt sich z.B. in GeoGebra ein Modell erstellen, bei dem dynamisch die Höhe der Anfahrtsrampe, die Höhe des Absprungpunkts (beides zum Niveau des Flats der Anfahrtsrampe), die Masse des Skateboarders und der Absprungwinkel variieren lassen. Setzt man die obigen Formeln ebenfalls um, so kann man aus \( y(t) \) die Flugdauer bzw. den Zeitpunkt bestimmen, bis der Skateboarder wieder auf Höhe der Mauerkrone angekommen ist. Damit folgt dann aus \(x(t) \) die erreichte Flugweite in x-Richtung. Es fällt hier auf, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Lösungen gibt. Eine davon lässt sich durch folgende Werte beschreiben: \[ \alpha = 45^\circ, \: h_0 = 12,9\text{m}, \: h_1 = 1,8\text{m} \] Die Flugdauer dabei beträgt 2,13s und die Flugweite (in x-Richtung) 22,2m. Mathematisch ist das innerhalb des Modells zwar zutreffend, aber unter dem Aspekt der Sicherheit möchte der Skateboarder vermutlich etwas weiter fliegen und nicht nur 20cm Puffer haben. Dies zeigt sich auch in einem Vergleich mit den Werten der echten Rampe: Der Höhenunterschied zwischen Start- und Absprungpunkt beträgt etwa 10 – 12 Meter (im Modell nur 11,1 Meter), die Höhe der Anfahrtsrampe wird mit knapp 17 Metern angegeben. Über die Höhe des Absprungpunkts sind keine Angaben zu finden, aber eine grobe Schätzung (vgl. Bild oben) lässt 4 – 6 Meter realistisch erscheinen.

Prüfen Sie das mathematische Modell und die Modellierung kritisch. Welche Annahmen würden Sie anders treffen?

Die hier vorgestellte Modellierung stellt nur einen Ausschnitt dar und deckt nicht das ganze Thema ab. Sie können selbst tätig werden und an dieser Modellierung weiterarbeiten. Einige Anregungen dazu:

  • Wie soll die Rampe zur Landung am besten gebaut sein? Wovon hängt ihre Form ab?
  • Welche Form ist an den Übergangen zwischen zwei linearen Rampenstücken am besten geeignet, um diese miteinander zu verbinden?
  • Vielleicht gibt es in Ihrer Stadt auch einen Skatepark in Ihrer Nähe. Spazieren Sie doch einmal dort vorbei und schauen Sie, ob sich dort nicht noch weitere spannende Fragen für Schülerinnen und Schüler ergeben.

1.2. Allgemeines und Ziele des Kurses

Das Schlagwort 21st Century Skills fasst verschiedene Kompetenzen zusammen, die in einer digitalen Gesellschaft für eine aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und für ein produktives Arbeitsleben als entscheidend angesehen werden. Nachdem Routinetätigkeiten in großen Teilen von Maschinen und Computern übernommen werden können, müssen Schülerinnen und Schüler vielmehr in der Lage sein, zu kommunizieren, Informationen auszutauschen und zur Lösung komplexer Probleme zu nutzen, sich an neue Anforderungen und veränderte Umstände anzupassen und innovativ zu sein.

Verschiedene Organisationen und Zusammenschlüsse, wie zum Beispiel die OECD (2018), die Europäische Union (2018) oder die Partnership for 21st Century Skills (P21) (2019) haben Kataloge an Fähigkeiten zusammengestellt, die sich beispielsweise auch in der Rahmenkonzeption kommenden PISA Erhebung 2021 niederschlagen. Zusammenfassend lassen sich folgende Kompetenzen hervorheben (vgl. Maass et. al 2019):

  • anpassungsfähiges und flexibles kritisches Denken und Argumentieren.
  • Informationssuche und –Interpretation.
  • im Rahmen kultureller, sozialer und ethischer Gegebenheiten mit anderen zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten.

Die Nutzung digitaler Werkzeuge und das damit einhergehende Erlernen einer mündigen und verständigen Verwendung digitaler Medien sind hier jeweils mitgedacht und als selbstverständlich angesehen. Die konkreten Möglichkeiten der Förderung dieser doch sehr allgemeinen Kompetenzen im Schulalltag bleibt dabei jedoch zunächst unklar. Aktuelle Forschungsarbeiten beschäftigen sich deshalb insbesondere mit der Frage, wie Lehrkräfte bei der Implementierung im Unterricht unterstützt werden können. Zum Beispiel hat Geiger (2019) einen Kriterienkatalog entwickelt, der Lehrende bei der Entwicklung und Umsetzung entsprechender Aufgaben innerhalb des regulären Unterrichts unterstützen soll.

Weiterhin schlagen Gravemeijer at al. (2017) vor, dass die 21st Century Skills als Ziele des Mathematikunterrichts verstanden werden sollten. Sie heben dabei die zunehmende Digitalisierung hervor, wodurch es immer wichtiger werde, die zugrundeliegende Mathematik zu begreifen. Zunächst gelte es zu erkennen, wo überhaupt Mathematik realisierbar ist. Anschließend soll das Problem in ein mathematisches Problem übersetzt werden, dort gelöst und die Ergebnisse interpretiert und evaluiert werden. Dies ähnelt sehr stark einem Modellierungsprozess, auf den wir im nächsten Abschnitt eingehen wollen.

Insbesondere beinhaltet dies, sich kritisch mit medialen Inhalten des Internets, aber auch der Print-, Funk- und Fernsehmedien auseinanderzusetzen zu können. Die kritische Reflexion der eigenen, aber auch fremder Modellierungstätigkeit gehört essenziell zum mathematischen Modellieren. In einer Zeit, in der Politik immer wieder von "der Wissenschaft" geleitet ist und mit mathematischen Modellen argumentiert (siehe etwa Covid-19 oder auch dem Klimawandel), sich aber auch Verschwörungstheorien weit verbreiten (und manchmal ganz eigene Modelle verwenden) und gerade durch soziale Medien große Reichweite erzielen können, ist es beinahe täglich nötig, Meldungen, Berichte und Nachrichten kritisch zu hinterfragen.

Mathematisches Modellieren beschäftigt sich damit, zu einer bestimmten Fragestellung aus der Realität mit mathematischen Methoden eine Antwort zu finden. Im Schulkontext wird häufig auch von Realitätsbezug gesprochen, d.h. es werden Aufgaben behandelt, die einen Bezug des mathematischen Inhalts mit einem Problem aus der Realität herstellen.

Beispiele für Fragestellungen:

  • Wie findet man die kürzeste Route für einen Paketboten?
  • Wie lässt sich ein Stadion am schnellsten evakuieren?
  • Ist ein Kreisverkehr verkehrstechnisch günstiger als eine Ampel?
    • …unter welchen Bedingungen ist ein Kreisverkehr im Allgemeinen günstiger?
    • Lässt sich eine Ampelschaltung so optimieren, dass sie einem Kreisverkehr für den gesamten Verkehrsfluss überlegen ist?
  • Wie viele Personen stehen in einem Stau?
  • Wie verbreiten sich Krankheiten in einer bestimmten Bevölkerung aus?

Es geht also u. A. (aber nicht nur) um die Anwendung von Mathematik auf „den Rest der Welt“, wobei die Motivation (meist) aus letzterer kommt. Dies ist auch in den KMK-Bildungsstandards für alle Schulstufen verankert. Für den mittleren Schulabschluss heißt es:

(K3) Mathematisch modellieren

Dazu gehört:

  • den Bereich oder die Situation, die modelliert werden soll, in mathematische Begriffe, Strukturen und Relationen übersetzen,
  • in dem jeweiligen Modell arbeiten,
  • Ergebnisse in dem entsprechenden Bereich oder der entsprechenden Situation interpretieren und prüfen.

Etwas ausführlicher beschrieben geht es also um den Wechsel zwischen Realsituation und mathematischen Begriffen, Resultaten oder Methoden.

  • Konstruieren passender mathematischer Modelle
  • Verstehen und Bewerten vorgegebener Modelle
    • Strukturieren und Vereinfachen gegebener Realsituationen
    • Übersetzen realer Gegebenheiten in mathematische Modelle
    • Interpretieren mathematischer Ergebnisse in Bezug auf Realsituationen
    • Überprüfen von Ergebnissen im Hinblick auf Stimmigkeit und Angemessenheit
Bereits auf den ersten Blick finden sich Schnittmengen zwischen dem mathematischen Modellieren und den 21st Century Skills.

Ziele des Kurses:

  • praktisch: vielfältige Beispiele kennenlernen und selbst modellieren: „Nur wer selbstständig unterschiedliche Probleme aus vielfältigen Kontexten modelliert hat, kann später im Unterricht oder in Universitätsseminaren reflektiert und erfahrungsreich mit den Lernenden umgehen.“ (Boromeo-Ferri ea. 2013, S.3)
  • theoretisch: Wissen über Modelle, Modellierungskreisläufe und (Teil-)kompetenzen des Modellierens; dadurch auch Reflexion der eigenen Modellierungstätigkeit
  • schulbezogen, aber mit Blick auf die Schule: Kennenlernen von bewährten Modellierungsaufgaben für den Schulunterricht.
  • Darüber hinaus steht die Schulung einer kritischen Reflexionsfähigkeit von eigenen und fremden Modellierungen und Modellen als einem zentralen 21st Century Skill im Zentrum des Kurses.

Gerade die kritische Reflexionsfähigkeit muss häufig in der Auseinandersetzung mit Aussagen aus den Medien angewendet werden, die oft nur die stark verkürzten Ergebnisse oder Interpretationen einer längeren Modellierung darstellen. Folgendes Beispiel zu steigenden Covid-19-Fallzahlen in der Schweiz zeigt etwa, dass "exponentielles Wachstum" und die "Verdoppelung" der Fallzahlen beinahe gleichgesetzt wird, ohne dass die Bedingungen dieses Zusammenhangs genauer erklärt werden.

Zitat:
Insbesondere in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte sei ein “exponentielles” Wachstum der Erkrankungen zu verzeichnen. Anfang Juli gab es an einem Tag sogar 137 bestätigte neue Fälle. Gut zwei Wochen davor waren es nur 17 gemeldete Fälle innerhalb eines Tages. Das Bundesamt für Gesundheit verzeichnete in den letzten beiden Wochen des Junis insgesamt mehr als eine Verdoppelung der Fallzahlen. Für das Bundesamt steht auch fest, wer für die Häufung die Verantwortung trägt: “Seit Mitte Juni ist es wiederholt zu einer Ausbreitung des neuen Coronavirus in der Schweiz gekommen, nachdem infizierte Personen eingereist sind.”

Quelle: www.rnd.de (Meldung vom 09.07.2020)

Hier muss kritisch geprüft werden, ob die genannten Zahlen den Schluss auf ein exponentielles Wachstum zulassen. Darüber hinaus stellen sich u.A. die Fragen, ob "mehr als eine Verdoppelung der Fallzahlen" einem exponentiellen Wachstum entspricht, ob dies immer so ist oder ob es sich nicht nur um ein spezielles exponentielles Wachstum handelt, das in der Krisensituation als Schwelle zu einer besonders gefährlichen Entwicklung gesehen werden kann.

Im zweiten Kapitel beschäftigen wir uns verstärkt damit, was Modelle eigentlich sind und wie der Modellierungsprozess beschrieben werden kann.