2. Typen von Schulleistungstests nach dem Vergleichsmaßstab

2.2 Kriteriumsorientierte Schulleistungstests

Der Unterschied zum normorientierten Schulleistungstest besteht in der anderen Grundfrage bei der Gewinnung und Behandlung des Testergebnisses. Das gewonnene Testergebnis in Form der erreichten Punktezahl wird mit dem Kriterium selbst verglichen. Das Kriterium besteht in unserem Fall aus den Forderungen des Lehrplans. Auf diese Forderungen geht der Test ein und deshalb heißt seine Fragestellung:

Ist das Lehrziel erreicht?

Die Antwort ist dichotom. Sie heißt entweder "ja" oder "nein".

Damit wird dem Leser klar, dass wir es hier mit einem völlig anderen Vergleichsmaßstab zu tun haben müssen.

Zuvor aber noch das gängige Missverständnis:

Es liegt bis jetzt schon klar auf der Hand, dass der kriteriumsorientierte (oder lehrplanorientierte) Schulleistungstest sich sehr deutlich am Lehrplan orientieren muss und dass er also dazu geeignet sein muss, die Lehrplanforderungen (die Summe der dort genannten einzelnen Lehrziele) zu prüfen. Der normorientierte Schulleistungstest tut das aber auch. Insofern ist der Lehrplanbezug kein Unterscheidungskriterium. Und nun der Vergleich mit dem normorientierten Schulleistungstest: Macht dieser das nicht? Wie oben schon entwickelt, ist gerade die Ableitung der Testinhalte für Schulleistungstests aus dem Lehrplan ein Wesensmerkmal auch des normorientierten Schulleistungstests, also beider Grundtypen. Bei der Lehrplanorientierung als solcher liegt also kaum ein Unterschied vor, auch wenn sie beim kriteriumsorientierten Schulleistungstest quasi ideell stärker gewichtet wird.

Bei dem kriteriumsorientierten Schulleistungstest muss die Testtheorie bei folgender Frage eine Hilfestellung leisten:

Von wie vielen richtig gelösten Items an kann ein Test mit n Items als bewältigt gelten, d.h. wie viele Punkte müssen erreicht sein, damit die Antwort heißen kann: "Ja, das Lehrziel ist erreicht"? Das Binomialmodell (s. Klauer, 1987, S. 137 ff.) geht von der Bernoulli-Algebra aus, hier der Wahrscheinlichkeit beim Ziehen von weißen und schwarzen Kugeln aus einer Urne und wendet diese Grundannahmen für die Bestimmung der nötigen Lösungsmenge an. Es gibt dabei zwei Parameter, nämlich das π als den Prozentsatz, mit dem das Lehrziel erreicht sein soll (z.B. 0,90), und die auch sonst übliche Irrtumswahrscheinlichkeit (z.B. 2 α = 0,05). Aus den Binomialtabellen (Klauer, 1987; oder auch Kleber, 1979) kann man nun ablesen, was die Mindestzahl von zu fordernden richtig gelösten Items bei einer bestimmten Anzahl n der Testitems ist. So ist etwa bei der oben festgelegten Kombination von π = 0,90 und 2 α = 0,05 bei einer Testlänge von 20 Items nach Klauers "Ein-Fehler-Modell" die Grenze bei 15 richtig gelösten Items. Hat ein Schüler nur 14 oder weniger Items gelöst, so gilt er als Nichtkönner (hat Lehrziel nicht erreicht), von 15 ab nach oben dann als Könner (hat Lehrziel erreicht).

Von der Logik her kann man einen kriteriumsorientierten Test verwenden, um z.B. die ausreichende Qualität der Englischkenntnisse für ein Auslandsstudium zu prüfen. Ein normorientierter Test dagegen kann verwendet werden, wenn z.B. 10 Plätze auf einer USA-Exkursion für Anglistikstudenten im 4. Semester mit ausgezeichneten Englisch-kenntnissen als Voraussetzung vorhanden sind und diese mit den am besten geeigneten besetzt werden sollen.

Nun ist allerdings die Vielzahl der in der Literatur beschriebenen unterschiedlichen Binomialmodelle (Klauer, 1987) für den Nutzer etwas undurchsichtig und die Handhabung der Binomialtabellen (s. auch Kleber, 1979) nicht ganz einfach, was vielleicht als Hindernis für die Verbreitung dieses Testtyps gesehen werden kann. Außerdem müsste eigentlich jeweils in einer Vorstudie sichergestellt sein, dass die Items gleich schwer sind.

Im Grunde wäre dieser Testtyp für bestimmte Anwendungen durch Lehrkräfte ideal. Er gibt für jeden Schüler die Antwort, ob dieser das Lehrziel erreicht hat oder nicht oder eventuell auch, wie nahe er dran ist (Als ein konkretes Beispiel, das im Rahmen eines Förder-programms beschrieben ist, kann eine Serie von Klauer für das 2.-4. Schuljahr genannt werden, herausgegriffen das Lehrerheft für 4. Schuljahr: Klauer, 1994). Die didaktische Konsequenz nach Anwendung des kriteriumsorientierten Schulleistungstests ist einfach: Ist das Lehrziel erreicht, kann die Lehrkraft getrosten Herzens mit dem Unterricht fortfahren und das nächste Lehrziel in Angriff nehmen. Ist das Lehrziel bei einem Schüler (oder mehreren Schülern) nicht erreicht, dann muss etwas unternommen werden. Das kann zunächst eine Wiederholung im engeren unterrichtlichen Rahmen sein oder zusätzliche Förder-maßnahmen im größeren schulischen Rahmen, soweit es solche gibt, etwa als Förderkurse bei Legasthenie, oder es kann die klassische Nachhilfe durchgeführt werden. Bei häufigerem Vorkommen des Nichterreichens muss auch die noch weiterreichende Frage geprüft werden, ob ein solcher Schüler in dieser Jahrgangsstufe oder in diesem Leistungskurs an der richtigen Stelle ist, mit allen zusätzlich nötigen Diagnose- und Beratungsschritten in Folge.

So praktisch also der kriteriumsorientierte Test für Lehrkräfte sein könnte, so wenig hat er sich durchgesetzt. Es gibt im Gegensatz zu einem bescheidenen früheren Vorkommen etwa in den 70er-Jahren keine publizierten kriteriumsorientierten Tests, die für sich alleine stehen, sondern höchstens als Teil eines in sich abgeschlossenen Übungsprogramms. Ansonsten liegt der Verwendungszweck, wenn sich keine Renaissance des Angebots abzeichnet, schwerpunktmäßig in der Forschung.