Intelligenz II: Anlage/Umwelt
4. Empirische Befunde
4.3 Zusammenwirken von Anlage- und Umweltprozessen
Vergleicht man die unter 4.1. und 4.2 dargestellten Befunde zu Anlage und Umwelt-einflüssen, so könnten sie zunächst durchaus widersprüchlich erscheinen, da sie zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. Auffällig dabei ist allerdings, dass die Studien unterschiedliche Ergebnisse liefern, je nachdem welche statistischen Analysemethoden verwendet werden. Hinweise auf genetische Einflüsse resultieren vorwiegend aus Korrelationsstudien, bei denen Kovarianzen individueller Unterschiede zwischen Gruppen untersucht werden, die unabhängig vom Intelligenzniveau sind. Belege für einen nachhaltigen Einfluss von Erfahrungen auf das Intelligenzniveau ergeben sich dagegen aus Mittelwert-vergleichen von Kindern, die in unterschiedlichen Umwelten aufwachsen. Korrelationsstudien prüfen im Wesentlichen, ob die Rangordnung der Kinder im Hinblick auf ihre Intelligenz gleich bleibt, unabhängig davon, auf welchem Intelligenzniveau sich die Gesamtgruppe befindet. Mittelwertvergleiche beschreiben Effekte auf die Gesamtgruppe ohne interindividuelle Unterschiede miteinzubeziehen.
Dieser Sachverhalt soll anhand von Abbildung 4.4 idealtypisch verdeutlicht werden. Man stelle sich vor, man hätte 5 eineiige Zwillingspaare, die in unterschiedlichen Umwelten aufwachsen. Auf der linken Seite der Abbildung wären diese Umwelten gleich, sodass bei einem Mittelwertvergleich jeweils ein IQ von 100 resultierte, wobei gleichzeitig deutlich sichtbar wäre, dass die Rangordnung der Zwillinge in den beiden Umwelten die gleiche wäre (was sich in einer Korrelation von 1.00 ausdrücken würde). Betrachten wir uns den rechten Teil der Abbildung, so sehen wir, dass die Umwelt 2 bezüglich Intelligenz wohl förderlicher ist, sodass die Kinder einen um 10 Punkte höheren Durchschnitt (IQ = 110) aufweisen, wobei wiederum gleichzeitig die Rangordnung der Kinder dieselbe bleibt.
Abbildung 4.4: Stabilität individueller Unterschiede bei vergleichbarer Umwelt (linke Seite) und trotz unterschiedlicher Umwelt (rechte Seite)
Da es sich hier also um verschiedene Varianzanteile handelt, besteht auch kein Widerspruch. Deutlich wird dies in einer Studie von Duyme, Dumaret und Tomkiewicz (1999), in der das IQ-Wachstum von ursprünglich vernachlässigten Kindern untersucht wurde, die in Familien adoptiert wurden, die sich im Hinblick auf den sozioökonomischen Status unterschieden. Während der durchschnittliche IQ aller Kinder vor der Adoption unter 80 lag, konnte bei allen Kindern nach der Adoption ein Zuwachs in der Intelligenz festgestellt werden, obwohl die individuellen Unterschiede in der Intelligenz zwischen den Kindern recht stabil blieben (r = .67). Gleichzeitig kovariierte das Ausmaß des Intelligenzzuwachses (von etwa 10 IQ-Punkten in den Unterschichtfamilien bis hin zu 20 IQ-Punkten in den Oberschichtfamilien) mit dem sozioökonomischen Status der Adoptiveltern.
Abbildung 4.5: Intelligenzzuwächse von vernachlässigten Kindern nach Adoption in Familien mit unterschiedlichem sozioökonomischen Status
Dass sowohl Anlage- wie Umwelteinflüsse wirksam sind, wird zusammenfassend auch in Abbildung 4.6 deutlich, in der Intelligenzkorrelationen zwischen Personen in Abhängigkeit vom genetischen Verwandtschaftsgrad und vom gemeinsamen/getrennten Aufwachsen dargestellt sind. Die Korrelationen steigen jeweils mit zunehmendem genetischen Verwandt-schaftsgrad an und sind jeweils höher bei Personen, die gemeinsam aufwachsen (also die gleiche Umwelt haben), als bei denen, die in verschiedenen Umwelten aufwachsen.
Abbildung 4.6: Korrelationen im IQ in Abhängigkeit vom genetischen Verwandtschaftsgrad und dem gemeinsamen oder getrennten Aufwachsen (nach Klauer, 2006 Newman, Tellegen & Bouchard, 1998)