Grundlagen der anwendungsbezogenen Hochschulmathematik
7. Gewöhnliche Differentialgleichungen
7.2. Lösen gewöhnlicher Differentialgleichungen erster Ordnung
Ein offenkundiges Problem in der Theorie der Differentialgleichungen ist, dass es eine relativ geringe Anzahl an Lösungsmethoden, die allgemein anwendbar sind, gibt. Auch für recht einfache Differentialgleichungen existiert normalerweise keine allgemeingültige Formel und besonders für Differentialgleichungen höherer Ordnung ist es rar eine analytische Lösung zu finden. Für manche Gleichungen ist es jedoch möglich und hier werden ein paar der häufigsten Fälle vorgestellt.

Gewöhnliche lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
Wenn eine Differentialgleichung der Form
\( p_n(x)y^{(n)} + p_{n-1}(x)y^{(n-1)} + \cdots + p_1(x)y' + p_0(x)y = r(x),\)
ist, dann heißt sie lineare Differentialgleichung. Die linke Seite der Gleichung ist eine Linearkombination der Ableitungen mit dem Multiplikator \( p_k(x) \). Somit ist eine gewöhnliche lineare Differentialgleichung von der Form
\( p_1(x)y' + p_0(x)y = r(x). \)
Wenn \( r(x) = 0 \) für alle \(x\) ist, dann nennt man die Gleichung homogen. Andernfalls ist die Gleichung inhomogen.

Satz 1.
Betrachte ein normiertes Anfangswertproblem
\( \left\{\begin{align}y^{(n)} + p_{n-1}(x)y^{(n-1)} + \cdots + p_1(x)y' + p_0(x)y = r(x) \\ y(x_0) = y_0, \: y'(x_0) = y_1, \: \ldots, \: y^{n-1}(x_0) = y_{n-1}. \end{align} \right. \)
Wenn die Funktionen \( p_k\) und \( r\) stetig im Intervall \( (a,b)\), in dem der Anfangswert \(x_0\) liegt, sind, dann besitzt das Anfangswertproblem eine eindeutige Lösung.
Die Forderung bezüglich der Normierung der Gleichung ist entscheidend. Zum Beispiel kann die Gleichung \(x^2y'' - 4xy' + 6y = 0 \) entweder keine oder eine unendliche Anzahl an Lösungen je nach Anfangswert haben: Substitution von \( x=0 \) in der Gleichung ruft automatisch einen Anfangswert von \( y(0)=0\) hervor.

Lösen einer gewöhnlichen linearen Differentialgleichung 1. Ordnung
Eine gewöhnliche lineare Differentialgleichung 1. Ordnung kann mit Hilfe der integrierenden Faktormethode gelöst werden. Die Idee der Methode ist beide Seiten mit der Gleichung \(y' + p(x)y = r(x) \) mit dem integrierenden Faktor \(\displaystyle e^{\int p(x) dx} =e^{P(x)}\) zu multiplizieren, was es erlaubt die Gleichung in die folgende Form zu schreiben
\(\displaystyle y'(x)e^{P(x)} + p(x)e^{P(x)}y(x) = r(x)e^{P(x)} \Leftrightarrow \frac{d}{dx}\left( y(x)e^{P(x)}\right) = r(x)e^{P(x)}. \)
Das Integrieren beider Seiten der Gleichung liefert
\(\displaystyle y(x)e^{P(x)} = \int r(x)e^{P(x)}\, \mathrm{d}x + C \Leftrightarrow y(x)= Ce^{-P(x)} + e^{-P(x)}\int r(x) e^{P(x)}\, \mathrm{d}x. \)
Es ist nicht ratsam sich die Formel an sich einzuprägen, sondern die Idee wie die Gleichung abgeändert werden sollte, um fortfahren zu können, im Hinterkopf zu behalten.
Beispiel 1.
Lösen wir die Differentialgleichung \(\displaystyle y'-y = e^x+1.\) Der zu integrierende Faktor ist \(\displaystyle e^{\int (-1)\, \mathrm{d}x} = e^{-x}\), also multiplizieren wir beide Seiten mit diesem Ausdruck:
\(\displaystyle e^{-x}y'-e^{-x}y = 1+e^{-x}\)
\(\displaystyle \frac{d}{dx}(y(x)e^{-x}) = 1+e^{-x}\)
\(\displaystyle y(x)e^{-x} = \int 1+e^{-x}\, \mathrm{d}x + C = x - e^{-x} + C\)
\(\displaystyle y(x)= e^xx - 1 + Ce^x.\)
Beispiel 2.
Lösen wir das Anfangswertproblem
\( \left\{\begin{align}xy' = x^2 + 3y \\ y(0) = 1 \end{align} \right. \)
Zuerst wollen wir das Problem in normierter Form ausdrücken:
\( \displaystyle y' - \frac{3}{x}y = x. \)
Nun ist der zu integrierende Faktor \(\displaystyle e^{ \int \frac{3}{x} dx } =\displaystyle e^{ -3 \ln \vert x \vert } =\displaystyle e^{ \ln x^{-3} } =\displaystyle \frac{1}{x^3},\> x>0. \) Somit erhalten wir
\(\displaystyle \frac{y'}{x^3} - \frac{3}{x^4}y = \frac{1}{x^2} \)
\(\displaystyle \frac{d}{dx}(\frac{y}{x^3}) = \frac{1}{x^2} \)
\(\displaystyle \frac{y}{x^3} = \int \frac{1}{x^2}\, \mathrm{d}x + C = - \frac{1}{x} + C\)
\(y = Cx^3 - x^2 \)
Wir haben die allgemeine Lösung gefunden. Da \(y(0) = C\cdot 0 - 0 = 0,\) ist, entspricht der Wert der Funktion nicht dem gegebenen Anfangswert und das Problem hat keine Lösung. Der Hauptgrund hierfür ist, dass der Anfangswert für \( x_0=0\) gegeben ist, für den die normierte Form der Gleichung nicht definiert ist. Jede andere Wahl von \( x_0\) führt zu einer eindeutigen Lösung.
Beispiel 3.
Lösen wir die gewöhnliche Differentialgleichung 1. Ordnung \(xy'-2y=2\) mit folgenden Anfangswerten
- \(y(1)=0\)
- \(y(0)=0\).
Aus der Form \(y'-(2/x)y=2/x\) sehen wir, dass die vorliegende Gleichung eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung ist. Der zu integrierende Faktor ist
\[ e^{-\int (2/x)\, \mathrm{d}x} = e^{-2\ln |x|} = e^{\ln (1/x^2)} = \frac{1}{x^2}. \]Multiplizieren mit dem zu integrierenden Faktor liefert uns
\[ (1/x^2)y'(x)-(2/x^3)y(x) =\frac{2}{x^3} \Leftrightarrow \frac{d}{dx}\left( \frac{y(x)}{x^2}\right) = \frac{2}{x^3}, \]also ist die allgemeine Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung \(y(x)=x^2 (-1/x^2+C)=Cx^2-1\). Mit dem Anfangswert \(y(1)=0\) folgt, dass \(C=1\), aber der andere Anfangswert \(y(0)=0\) führt zu einem Widerspruch \(-1=0\). Somit ist die Lösung in Teil a) \(y(x)=x^2-1\), aber eine Lösung, die den Anfangswert aus Teil b) erfüllt, existiert nicht: Durch Substitution von \( x=0 \) folgt aus der Gleichung \( y(0)=-1\).

Getrennte Variablen
Eine Differentialgleichung erster Ordnung hat getrennte Variablen, wenn sie in die Form \( y' = f(x)g(y) \) geschrieben werden kann, wobei \(f\) und \(g\) integrierbare Funktionen im betrachteten Definitionsbereich sind. Behandeln wir formal \( y'(x)=dy/dx\) als einen Bruch und multiplizieren mit \( dx\) und teilen mit \( g(y)\), erhalten wir \( \frac{dy}{g(y)}=f(x)\, dx\). Durch Integration der linken Seite in Anbetracht von \( y\) und der rechten Seite in Anbetracht von \( x\), erhalten wir
\(\displaystyle \int \frac{\mathrm{d}y}{g(y)} = \int f(x)\, \mathrm{d}x + C\)
Diese Methode gibt die Lösung der Differentialgleichung in impliziter Form wider, welche wir im Weiteren explizit lösen können für \(y =y(x)\). Die Rechtfertigung für diese formale Betrachtung wird deutlich, indem andere Variablen für die Integrale benutzt werden können.
Beispiel 4.
Lösen wir die Differentialgleichung \(\displaystyle y'+\frac{2}{5}y = 0 \) mit getrennten Variablen. (Wir könnten die Gleichung auch mit der Methode von integrierbaren Faktoren nehmen.)
\(\displaystyle y'+\frac{2}{5}y = 0 \)
\(\displaystyle \frac{dy}{dx} = -\frac{2}{5}y \)
\(\displaystyle \int \frac{1}{y}\, \mathrm{d}y = -\frac{2}{5} \int \, \mathrm{d}x \)
\(\displaystyle \ln |y| = -\frac{2}{5}x + C_1 \)
\( \displaystyle y =\pm e^{-\frac{2}{5}x+C_1} = \pm e^{-\frac{2}{5}x}e^{C_1} = Ce^{-\frac{2}{5}x}, \: C\neq 0. \)
Im letzten Schritt, haben wir aufgrund von Einfachheit \(C =\pm e^{C_1}\) geschrieben. Der Fall \( C=0\) ist auch erlaubt, da es zu trivialen Lösung \(y(x)\equiv 0\) führt, siehe unten.
Beispiel 5.
Lösen wir das Anfangswertproblem
\( \left\{\begin{align}y' = \frac{x}{y} \\ y(0) = 1 \end{align} \right. \)
Da die allgemeine Lösung nicht notwendig ist, können wir eine Abkürzung durch Anwendung des Integrals in folgenderweise nehmen:
\(\displaystyle \frac{dy}{dx} = \frac{x}{y} \)
\(\displaystyle \int_1^y y \, \mathrm{d}y =\int_0^x x \, \mathrm{d}x \)
\(\displaystyle \frac{1}{2}y^2 - \frac{1}{2} =\frac{1}{2}x^2 \)
Die Lösung ist \( y=y(x)=\sqrt{x^2+1}\).

Triviale Lösungen gewöhnlicher Differentialgleichung mit getrennten Variablen
Allgemeinen Lösungen, die durch die Anwendung der Methode für getrennte Variablen gewonnen werden, fehlt es normalerweise an Information an Lösungen bezüglich der Nullstellen der Funktion \(g(y)\). Der Grund hierfür ist, dass wir bei der Methode für getrennte Variablen voraussetzen müssen, dass \(g(y(x)) \neq 0\) gilt, um den Ausdruck durch \(g(y(x))\) dividieren zu können. Es fällt auf, dass für jede Nullstelle \(\alpha\) der Funktion \(g\) eine dazugehörige konstante Lösung \(y(x)\equiv \alpha\) der gewöhnlichen Differentialgleichung \(y'=f(x)g(y)\) existiert, da \(y'(x)\equiv 0=g(\alpha)\equiv g(y(x))\). Diese Lösungen heißen triviale Lösungen (im Gegensatz zur allgemeinen Lösung).
Wenn die Voraussetzungen des folgenden Satzes erfüllt sind, dann können alle Lösungen einer Differentialgleichung getrennter Variablen entweder aus der allgemeinen Lösung oder den trivialen Lösungen abgeleitet werden.

Satz 2.
Betrachten wir das Anfangswertproblem \(y'=f(x,y),\ y(x_0)=y_0\).
- Wenn \(f\) stetig ist (als Funktion zweier Variablen), dann existiert mindestens eine Lösung in einem Intervall, welches den Punkt \(x_0\) enthält.
- Weiterhin, wenn \(f\) stetig differenzierbar bezüglich \(y\) ist, dann ist die Lösung, welche die Anfangswertbedingung erfüllt, eindeutig.
- Die Eindeutigkeit ist auch erfüllt, wenn neben (i) die Funktion \(f\) stetig differenzierbar bezüglich \(x\) ist und \(f(x_0,y_0)\neq 0\) gilt.

Der Beweis des Satzes basiert auf der Technik bekannt als Picard-Lindelöf-Iteration, welche von Emile Picard erfunden und von dem finnischen Mathematiker Ernst Lindelöf (1870-1946) und anderen weiterentwickelt wurde.
Durch Anwenden des vorherigen Satzes, können wir das folgende Ergebnis für Gleichungen getrennter Variablen formulieren.

Satz 3.
Betrachten wir eine Differentialgleichung getrennter Variablen \(y'=f(x)g(y)\), wobei \(f\) stetig und \(g\) stetig differenzierbar ist.
- Für jede Nullstelle \(\alpha\) der Funktion \(g\) existiert eine triviale Lösung \(y(x)\equiv \alpha =\) konstant.
- Alle anderen Lösungen (= die allgemeine Lösung) können durch Anwendung der vorher beschriebenen Methode ermittelt werden, d. h. die Variablen trennen und die Integrale berechnen.
Die Lösungskurven in jedem Punkt \((x_0,y_0)\) des Definitionsbereichs der Gleichung sind immer eindeutig. Insbesondere können die Kurven sich nicht überschneiden und es ist nicht möglich, dass sich eine einzelne Kurve in zwei oder mehr Teile aufteilt.
Die anderen Lösungskurven der gewöhnlichen Differentialgleichung können nicht die Kurven \(y=\alpha\) in Zusammenhang mit den trivialen Lösungen schneiden. Also gilt automatisch für alle anderen Lösungen die Bedingung \(g(y(x))\neq 0\)!
Beispiel 6.
Lösen wir die homogene lineare Differentialgleichung \(y'+p(x)y=0\) durch Anwenden der Methode für Gleichung getrennter Variablen.
Die Gleichung hat die triviale Lösung \(y_0(x)\equiv 0\). Da die anderen Lösungen nirgendwo den Wert 0 annehmen, gilt, dass
\[\begin{aligned} \frac{dy}{dx} &= y'= -p(x)y \\ &\Leftrightarrow \int\frac{\mathrm{d}y}{y} = -\int p(x)\, \mathrm{d}x +C_1 \\ &\Leftrightarrow \ln|y| = -P(x)+C_1 \\ &\Leftrightarrow |y| =e^{C_1-P(x)} \\ &\Leftrightarrow y=y(x)=\pm e^{C_1} e^{-P(x)} =Ce^{-P(x)}.\end{aligned}\]
Hierbei wurde der Ausdruck \(\pm e^{C_1}\) durch eine einfachere Konstante \(C\in\mathbb{R}\) ausgetauscht.

Die Euler Methode
In der Praxis ist es üblicherweise nicht möglich analytische Lösungen für Differentialgleichungen zu finden. In diesen Fällen bleibt als einzige Möglichkeit auf numerische Methoden zurückzugreifen. Ein markantes Beispiel dieser Art von Methode ist die sogenannte Euler Methode. Die Idee hinter der Methode ist die vorherige Beobachtung bei Richtungsfeldern: auch wenn wir die Lösung an sich nicht kennen, können wir dennoch die Tangenten der Lösungskurve bestimmen. Anders gesagt, suchen wir die Lösungen des folgenden Anfangswertproblems
\( \left\{\begin{align}y' = f(x,y) \\ y(x_0) = y_0. \end{align} \right. \)
In Eulers Methode beginnen wir den Lösungsprozess mit der Wahl der Schrittlänge \( h\) und dem Anwenden der Iterationsformel
\( \displaystyle y_{k+1} = y_k + hf(x_k, y_k). \)
Die Iteration beginnt beim Index \( \displaystyle k=0 \) durch Substituieren des gegebenen Anfangswertes auf der rechten Seite der Iterationsformel. Da \(f(x_k, y_k) = y'(x_k) \) ist die Steigung der Tangente der Lösung bei \(x_k \), für jeden Schritt bewegen wir uns mit einer Länge ausgedrückt durch die Schrittlänge in die Richtung der Tangente. Durch diesen Vorgang, entsteht ein Fehler, welcher mit zunehmender Schrittlänge steigt.
Beispiel 9.
Untersuchen wir die Lösung des Anfangswertproblems
\( \left\{\begin{align}y' = y \\ y(0) =1 \end{align} \right. \)
erhalten durch Anwendung der Euler Methode und vergleichen das Ergebnis mit der exakten Lösung \( \displaystyle g(x) = e^x. \)
