7. Gewöhnliche Differentialgleichungen

7.1. Begriffe

Differenzialgleichungen

Eine Differentialgleichung ist eine Gleichung, die eine unbekannte Funktion enthält, z. B. \( y = y(x) \) und ihre Ableitungen \( y'(x), y''(x), \ldots, y^{(n)}(x) \). Diese Art von Gleichung bei der die unbekannte Funktion von einer Variablen abhängt heißt gewöhnliche Differentialgleichung oder einfach nur Differentialgleichung. Wenn die Funktion mehrere Variablen enthält, heißt sie partielle Differentialgleichung, aber diese werden nicht in diesem Kurs behandelt.

Eine typische Anwendung, die zu einer Differentialgleichung führt, ist der radioaktive Zerfall. Wenn \( y=y(t) \)die Anzahl der radioaktiven Nukleare zum Zeitpunkt \( t \)ist, dann ist innerhalb eines kurzen Zeitintervalls \( \Delta t\) die Veränderung der Anzahl näherungsweise \( \Delta y \approx -k y(t)\cdot \Delta t\), wobei \( k\) eine positive Konstante ist und von der radioaktiven Substanz abhängt. Die Approximation wird besser, wenn \( \Delta t \to 0\), so dass \( y'(t) \approx \Delta y/\Delta t \approx -ky(t) \). Daraus folgt, dass die Differentialgleichung \( y'(t)=-ky(t)\) eine mathematische Modellierung für den radioaktiven Zerfall darstellt. In der Realität ist die Anzahl der Nukleare eine ganze Zahl, also ist die Funktion \( y(t)\) nicht differenzierbar (oder die Ableitung ist meist Null!) Somit beschreibt das Modell die Eigenschaften einer idealisierten, glatten Version von \( y(t)\). Das ist ein typisches Phänomen in den meisten Modellierungen.

Ordnung

Die Ordnung einer Differentialgleichung entspricht der höchsten Ordnung der Ableitungen, die in der Gleichung vorkommen.

Zum Beispiel ist die Ordnung der Differentialgleichung \( y' + 3y = \sin(x)\) gleich 1. Die Ordnung der Differentialgleichung \( y'' + 5y' -6y = e^x \) ist 2.

Hier ist die Variable von der Funktion \(y\) nicht sichtbar; die Gleichung sieht \(y\) als implizit zu bestimmen vor.

Lösungen von Differentialgleichungen

Eine Differentialgleichung der n-ten Ordnung hat folgende Form

\( \begin{equation} \label{dydef} F(x, y(x), y'(x),\ldots , y^{(n)}(x)) = 0 \end{equation} \)

Die Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung ist eine n-mal differenzierbare Funktion \(y(x)\), welche die obige Gleichung für alle \( x \in I, \) erfüllt, wobei \(I\) ein offenes Intervall auf der reellen Achse ist.

Typischerweise ist die Lösung nicht eindeutig und es kann eine unendliche Anzahl an Lösungen geben. Betrachte die Gleichung \( xy^2 + y' = 0. \) Die Gleichung hat die Lösungen

  • \( y_0(x) = 0,\enspace x \in \mathbb{R} \)
  • \( y_1(x) = 2/x^2,\enspace x>0 \)
  • \( y_2(x) = 2/x^2,\enspace x<0 \)
  • \( y_3(x) = 2/(x^2 + 3),\enspace x \in \mathbb{R} \)

Hier sind \( y_1\), \( y_2\) und \( y_3 \) sogenannte partikuläre Lösungen. Die allgemeine Lösung ist \( y(x) = 2/(x^2 + C),\> C \in \mathbb{R}. \) Partikuläre Lösungen können aus der allgemeinen Lösung abgeleitet werden, indem dem Parameter \(c\) ein Wert zugewiesen wird. Lösungen, die nicht aus der allgemeinen Lösung hervorgehen, nennt man spezielle Lösungen.

Differentialgleichungen müssen nicht unbedingt eine Lösung besitzen. Zum Beispiel die Differentialgleichung erster Ordnung \( \sin(y' + y) = 2 \) hat gar keine Lösung. Wenn eine Gleichung erster Ordnung in die Normalform \( y' = f(x,y) \) umgeschrieben werden kann, wobei \(f\) stetig ist, dann existiert eine Lösung.

Anfangswert-Bedingung

Konstanten in der allgemeinen Lösung können einige Werte gegeben werden, wenn die Lösung weitere Eigenschaften erfüllen soll. Wir könnten zum Beispiel verlangen, dass die Lösung gleich \( y_0 \) bei \( x_0 \) ist, indem wir einen Anfangswert festlegen \( y(x_0) = y_0. \) Mit Gleichungen erster Ordnung wird (normalerweise) nur eine Bedingung benötigt, um eine eindeutige Lösung zu erhalten. Bei Gleichungen zweiter Ordnung brauchen wir entsprechend zwei Werte. In diesem Fall ist die Anfangswertbedingung von folgender Form

\( \left\{ \begin{array} yy(x_0) = y_0 \\ y'(x_0) = y_1 \end{array} \right. \)

Im Allgemeinen, benötigen wir also für eine Gleichung n-ter Ordnung n Anfangswerte, um eine eindeutige Lösung zu erhalten. Eine Differentialgleichung und ihre dazugehörigen Anfangswerte werden gemeinsam als Anfangswertproblem bezeichnet.

Beispiel 1

Wir haben oben gesehen, dass die allgemeine Lösung der Gleichung \( xy^2 + y' = 0 \) durch die Gleichung \( y(x) = 2/(x^2 + C)\) gegeben ist. Damit ist die Lösung des Anfangswertproblems

\( \left\{\begin{align} xy^2 + y' = 0 \\ y(0) = 1 \end{align} \right. \)

gleich \( y(x) = 2/(x^2 + 2).\)

In der unteren Graphik sind ein paar Lösungen für die Gleichung \( xy^2 + y' = 0 \) eingezeichnet. Probiere selbst aus wie die Anfangswertbedingung die Lösung beeinflusst. Die Anfangswerte können verändert werden, indem man die Punkte verschiebt. Ist es möglich, dass sich die Lösungskurven schneiden?

Richtungsfeld

Die Differentialgleichung \( y' = f(x,y) \) kann geometrisch interpretiert werden: Wenn die Lösungskurve (d. h. der Graph einer Lösung) durch einen Punkt \( (x_0, y_0) \) geht, dann gilt \( y'(x_0) = f(x_0, y_0) \),d. h. wir können die Steigungen der Tangenten von dieser Kurve finden obwohl wir noch nicht einmal die Lösung selbst kennen. Richtungsfeld oder Steigungsfeld ist ein Vektorfeld \( \vec{i} + f(x_k, y_k)\vec{j} \) beschrieben durch die Punkte \( (x_k, y_k)\). Die Richtung des Feldes liefert ein ziemlich genaues Bild von dem Verhalten der Lösungskurven.

Beispiel 2

Im unteren Bild ist ein Richtungsfeld entsprechend der Differentialgleichung \( y' = x^2 - y^2 \) eingezeichnet.