1. Wahrscheinlichkeitsrechnung

1.3. Allgemeine Wahrscheinlichkeitsräume

Allgemeine Wahrscheinlichkeitsräume

Aus der Sekundarstufe I ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeitsräumen bekannt bzw. deren implizite Verwendung. Die dabei relevanten Wahrscheinlichkeitsräume zeichnen sich durch die Endlichkeit ihrer Ergebnismenge \(\Omega \) aus:

Definition (Endlicher Wahrscheinlichkeitsraum)

Sei \(\Omega \) eine endliche, nichtleere Ergebnismenge und sei \(P\colon\wp (\Omega)\longrightarrow\mathbb{R}\) eine Abbildung von der Potenzmenge \(\wp (\Omega)\) in die reellen Zahlen. Dann heißt \(P\) ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf \(\Omega \), falls die folgenden drei Axiome erfüllt sind:

Kolmogoroff-Axiome:

  1. (Nichtnegativität) \(P(A)\geq 0\) für alle \(A\in\wp (Ω)\)

    Das heißt: Jedem Ereignis \(A\) wird durch die Abbildung \(P\) eindeutig eine nichtnegative reelle Zahl \(P(A)\) zugeordnet.

  2. (Normierung) \(P(\Omega ) = 1\)

    Das heißt: Dem sicheren Ereignis \(\Omega \) wird die Zahl \(1\) zugeordnet.

  3. (Additivität) \(P(A\cup B)=P(A)+P(B) \) für alle disjunkten Ereignisse \(A, B\in\wp (Ω)\)

    Das heißt: Für disjunkte Ereignisse \(A\) und \(B\) ist die Wahrscheinlichkeit \(P(A\cup B)\), dass \(A\) oder \(B\) oder \(A\) und \(B\) eintreten, gleich der Summe der Einzel-Wahrscheinlichkeiten: \(P(A)+P(B) \).

Ist ein derartiges Wahrscheinlichkeitsmaß \(P\) auf \(\Omega\) gegeben, dann heißt \((\Omega, \wp (\Omega), P )\) endlicher Wahrscheinlichkeitsraum.

Durch die Einführung des Konzepts Wahrscheinlichkeitsraum wird die bisher anschaulich motivierte Vorstellung der Wahrscheinlichkeit theoretisch fundiert und axiomatisiert. Kolmogoroffs Axiomensystem stellt zuerst einmal „nur“ ein mögliches System von Verknüpfungen dar, aus dem sich allerdings die bekannten Eigenschaften, die vom Wahrscheinlichkeitsbegriff erwartet werden, ableiten lassen. Das System ist dabei effizient – es enthält so wenige Axiome wie möglich – und diese Axiome sind widerspruchsfrei.

Im Folgenden wird dieses Konzept verallgemeinert, hin zu Wahrscheinlichkeitsräumen mit abzählbar-unendlicher Ergebnismenge \(\Omega\).

Analog zum Fall des endlichen Wahrscheinlichkeitsraums wird dabei jedem Elementarereignis \(\{\omega_i\}\) aus \(\Omega = \{\omega _1, \omega _2, \omega _3, \ldots \}\) eine nichtnegative Zahl \(P(\omega _i)\) zugeordnet, sodass die Summe aller solchen Wahrscheinlichkeiten 1 ergibt: \(\sum_{i=1}^{\infty}{P(\omega_i) = 1}\)

Für alle Teilmengen \(E\) von \(\Omega\) wird dann die eine Wahrscheinlichkeitsverteilung P definiert durch: \(P(E)=\sum_{\omega_i\in E}{P(\omega_i)}\)

Da diese Summe absolut konvergent ist (also jede Umordnung gegen den gleichen Wert konvergiert), ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung wohldefiniert.

Definition (Abzählbar-unendlicher Wahrscheinlichkeitsraum)

Sei \(\Omega \) eine abzählbar-unendliche, nichtleere Ergebnismenge. Eine Funktion

\[P\colon\wp (\Omega)\longrightarrow\mathbb{R}\text{ mit } A\mapsto P(A)\text{ für } A\in\wp (Ω)\]

heißt Wahrscheinlichkeitsmaß auf \(\Omega \), falls gilt:

Kolmogoroff-Axiome:

  1. (Nichtnegativität) \(P(A)\geq 0\) für alle \(A\in\wp (Ω)\)

    Das heißt: Jedem Ereignis \(A\) wird durch die Abbildung \(P\) eine nichtnegative reelle Zahl \(P(A)\) zugeordnet.

  2. (Normierung) \(P(\Omega ) = 1\)

    Das heißt: Dem sicheren Ereignis \(\Omega \) wird die Zahl \(1\) zugeordnet.

  3. (\(\sigma \)-Additivität) Für ein System von Mengen \(A_i\in\wp (Ω) (i\in\mathbb{N}\) mit \(A_i\cap A_j =\emptyset\) für \(i\neq j\) gilt:

    \[P(\bigcup_{i=1}^\infty A_i )=\sum_{i=1}^\infty P(A_i) \]

    Das heißt, dass für abzählbar-unendlich viele, paarweise disjunkte Mengen \(A_i (i\in\mathbb{N})\) das Wahrscheinlichkeitsmaß der Vereinigung dieser Mengen gleich der Summe der Wahrscheinlichkeitsmaße der einzelnen Mengen ist.

In diesem Fall nennt man \((\Omega, \wp (\Omega), P )\) einen abzählbar-unendlichen Wahrscheinlichkeitsraum.

Im Gegensatz zu endlichen Wahrscheinlichkeitsräumen, wo nur die Wahrscheinlichkeit der Vereinigung endlich vieler, paarweise disjunkter, Mengen erklärt ist, ist im Fall des abzählbar-unendlichen Wahrscheinlichkeitsraums die Wahrscheinlichkeit der Vereinigung abzählbar-unendlich vieler, paarweise disjunkter, Mengen erklärt.

In beiden Fällen spricht man von sogenannten diskreten Wahrscheinlichkeitsräumen. (In Kapitel 5 hingegen werden Wahrscheinlichkeitsräume mit überabzählbar-unendlicher Ergebnismenge \(\Omega\) benötigt.)

Beispiel – „Warten auf die erste 6“

Eine abzählbar-unendliche Ergebnismenge wird bspw. im Fall des „Wartens auf den ersten Erfolg“ benötigt. Wird beim Würfelspiel mir einem regulären Würfel so lange gewürfelt, bis zum ersten Mal eine Sechs fällt, dann ergibt sich als Ergebnismenge \(\Omega=\{1,2,3,\ldots\}\) die Menge der Nummern der Versuche, in denen zum ersten Mal eine Sechs geworfen wird. Diese muss die ganze Menge der natürlichen Zahlen sein, da der Wurf der ersten Sechs theoretisch beliebig „spät“ erfolgen kann.

Bei diesem Experiment beträgt die Wahrscheinlichkeit, im i-ten Versuch die erste 6 zu würfeln: \(P(\omega_i)=\Big(\frac{5}{6}\Big)^{i-1}\cdot\frac{1}{6}\). Auf Grund der geometrischen Summenformel \(1+q+q^2+\ldots + q^n = \frac{1-q^{n+1}}{1-q}\) gilt: \[ \sum_{i=1}^{\infty}{P(\omega_i)}=\sum_{i=1}^{\infty}{\Big(\frac{5}{6}\Big)^{i-1}\cdot\frac{1}{6}}= \frac{1}{6}\cdot\sum_{i=1}^{\infty}{\Big(\frac{5}{6}\Big)^{i}} = \frac{1}{6}\cdot\frac{1}{1-\frac{5}{6}}=1 \]