Fall 2 - Brötlis zwanghafte Mitgliedschaft - ausformulierte Lösung
8. Lösung
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Fraglich ist allerdings, ob § 2 IHK-Gesetz, welcher für jeden Gewerbetreibenden die Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer vorsieht, auch materiell verfassungsmäßig ist.
1. Verstoß gegen Art. 9 I GG
Es könnte ein Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 I GG vorliegen.
a) Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste eröffnet sein.
Gemäß Art. 9 I GG haben alle Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. B ist deutsche Staatsangehörige. Der persönliche Schutzbereich ist damit eröffnet.
Weiterhin muss der sachliche Schutzbereich eröffnet sein. Mit Art. 9 I GG wird die Freiheit gewährleistet, Vereine zu gründen und sich in einer Vereinigung zu betätigen (individuelle Vereinigungsfreiheit). Auch sind Vereinigungen als solche in ihrer Existenz und Funktionsfähigkeit geschützt (kollektive Vereinigungsfreiheit). Der Schutzumfang beinhaltet auch das Recht der Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte. Außerdem wird ebenso die Freiheit geschützt aus einer Vereinigung auszutreten oder sich dieser gar nicht erst anzuschließen (negative Vereinigungsfreiheit).
§ 2 IHK-Gesetz sieht eine Pflichtmitgliedschaft vor. Dies bietet den Gewerbetreibenden keine Möglichkeit, sich dieser zu entziehen, womit ein Verstoß gegen die durch Art. 9 I GG gewährleistete negative Vereinigungsfreiheit vorliegen könnte. Hierfür müsste die Industrie- und Handelskammer auch eine Vereinigung i.S.d. Art. 9 I GG sein. Vereinigungen sind Zusammenschlüsse, zu denen sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen haben. Hier ist das Merkmal der Freiwilligkeit problematisch, denn Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie die Industrie- und Handelskammer, vgl. § 3 IHK-Gesetz, die durch staatlichen Hoheitsakt gegründet werden und eine Mitgliedschaft kraft Gesetzes vorsehen, gerade nicht auf Freiwilligkeit basieren. Daher ist auch die Existenz und Funktionsfähigkeit solcher Vereinigungen nicht vom Schutzbereich des Art. 9 I GG geschützt. Auch Zwangsmitglieder dieser Vereinigungen können sich nicht auf die Gründungs- und Betätigungsfreiheit berufen.
Uneinheitlich beurteilt wird allerdings die Frage, ob nicht zumindest die negative Komponente des Art. 9 I GG Körperschaften des öffentlichen Rechts erfasst und wenigstens vor der Zwangseingliederung in öffentlich-rechtliche Verbände schützt.
Dies wird von der Rechtsprechung und überwiegender Ansicht in der Literatur verneint und auf Art. 2 I GG verwiesen. Als Argument wird angeführt, dass die positive Seite der Vereinigungsfreiheit nicht weiterreichen kann als die negative, sog. Kehrseitenargument. Steht dem Einzelnen nicht das Recht aus Art. 9 I GG zu eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zu gründen so lässt sich auch ein Recht auf Fernbleiben daraus nicht ableiten. Des Weiteren wird die Entstehungsgeschichte des Art. 9 I GG zur Begründung herangezogen. Gerade unter dem Hinweis der möglichen Notwendigkeit Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich-rechtlichen Organisationen zusammenzuschließen, wurde der Vorschlag im Verfassungskonvent abgelehnt, die Vereinigungsfreiheit um eine Regelung zu ergänzen, dass niemand gezwungen werden dürfe, sich einer Vereinigung anzuschließen. Die Gegenmeinung will hingegen die negative Vereinigungsfreiheit auch hinsichtlich öffentlich-rechtlicher Zusammenschlüsse zulassen. Dem Kehrseitenargument wird entgegengehalten, dass es sich bei dem Fernbleiben von einem solchen Verband gerade nicht um eine Inanspruchnahme öffentlich-rechtlicher Gestaltungsformen handelt. Im Vordergrund liegt vielmehr die Abwehr staatlichen Zwangs und folglich um eine klassische Grundrechtsfunktion.
Die Argumente der Gegenmeinung vermögen letztlich nicht zu überzeugen, da ohne Frage ein qualitativer Unterschied zwischen privat-rechtlichen und öffentlich-rechtlichen Zusammenschlüsse besteht, was eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. Insofern ist mit der Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit öffentlich-rechtliche Zwangsmitgliedschaften nicht umfasst.