Grundlagen der anwendungsbezogenen Hochschulmathematik
4. Funktionen II
4.3. Stetigkeit
Definition und anschauliches Stetigkeitskonzept
In diesem Abschnitt wird eine wesentliche Eigenschaft von Funktionen eingeführt, nämlich die Stetigkeit. Stetig kann eine Funktion an einer Stelle oder in einer Menge sein. Viele Konzepte und Sätze gelten nur für stetige Funktionen. Beispielsweise ist die Stetigkeit einer Funktion dafür notwendig, um die Ableitung dieser Funktion berechnen zu können (Ableitungen werden im nächsten Modul dieses Kurses behandelt). Ein tiefes Theorem, das nach den Mathematikern Marshall H. Stone und Karl Weierstraß benannt wurde, besagt, dass man jede stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall beliebig gut durch geeignete Polynome annähern kann.
Eine einfache intuitive Erklärung für stetige Funktionen ist die folgende:
Eine Funktion wird man natürlicher Weise stetig nennen wenn man den Graph einer Funktion ohne abzusetzen zeichnen kann. Aber diese einfache Erklärung erläutert nicht vollständig den Begriff "Stetigkeit" (und ist bei nicht zusammenhängender Definitionsmenge sogar falsch). Betrachten wir die Funktionen \(f(x) = \frac{1}{x}\) und \(g(x) = \tan (x)\). Sind sie in ihrem jeweiligen Definitionsbereich stetig? Sind sie sogar auf \(\mathbb{R}\) stetig? Um diese Fragen zu beantworten, benötigen wir die mathematische Definition der Stetigkeit.

Definition 1 (Stetigkeit einer Funktion)
Eine Funktion \(f\colon S\to \mathbb{R}\) heißt stetig an einer Stelle \(x_{0}\in S\), falls \[\lim_{x\to x_{0}}f(x)=f(x_{0})\]gilt. Eine Funktion \(f\colon S\to \mathbb{R}\) ist stetig, falls sie an jedem Punkt \(x_{0}\in S\) ihrer Definitionsmenge stetig ist.
Liest man diese Definition gewissenhaft, so erkennt man, dass für eine an der Stelle \(x_0\) stetige Funktion \(f(x)\) drei Eigenschaften erfüllt sein müssen:
-
\(f(x_0)\) ist definiert
-
\(\lim\limits_{x \to x_0} f(x)\) existiert
-
\(\lim\limits_{x \to x_0} f(x)\) hat den gleichen Wert wie \(f(x_0)\)
Beispiel 1.
Die Funktionen \(f(x) = x\), \(g(x) = |x|\) und \(h(x) = c\) (wobei \(c\) eine Konstante ist) sind stetig auf \(\mathbb{R}\).
Dies ergibt sich aus dem Folgenden: man wählt eine Stelle \(x_0\) und eine Folge \( \left( x_k \right)_{k \in \mathbb{N}} \), die gegen \(x_0\) konvergiert. Dann gilt:
-
\( \lim\limits_{k \to \infty} f(x_k) = \lim\limits_{k \to \infty} x_k = x_0 = f(x_0) \)
-
\( \lim\limits_{k \to \infty} g(x_k) = \lim\limits_{k \to \infty} |x_k| = |x_0| = g(x_0) \)
-
\( \lim\limits_{k \to \infty} h(x_k) = \lim\limits_{k \to \infty} c = c = h(x_0) \)
Die oben aufgefühten Ergebnisse ergeben sich direkt aus der Anwendung der Definition stetiger Funktionen. Daher sind alle drei Funktionen \(f(x) = x\), \(g(x) = |x|\) und \(h(x) = c\) stetig an jeder Stelle der Menge \(\mathbb{R}\).

Satz 1.
Summe, Produkt und Differenz von an einer Stelle stetigen Funktionen sind an dieser Stelle ebenfalls stetig. Wenn \(f\) und \(g\) stetig sind an der Stelle \(x_0\) und \(g(x_0) \neq 0\) gilt, so ist \( \frac{f}{g}(x) \) auch stetig an der Stelle \(x_0\).
Bemerkung: Aus diesem Satz und Beispiel 1 folgt, dass alle Polynome auf \(\mathbb{R}\) stetig sind.

Satz 2.
Die Komposition zweier stetiger Funktionen ist wiederum eine stetige Funktion.

Unstetigkeitsstellen
Stetige Funktionen spielen eine wichtige Rolle in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Aber nicht jede Funktion ist stetig. Wenn eine Funktion nicht stetig an einer Stelle ihres Definitionsbereichs ist, so heißt die Funktion an dieser Stelle unstetig und die Stelle eine Unstetigkeitsstelle. Es gibt verschiedene Arten von Unstetigkeitsstellen. Diese werden wir nachfolgend klassifizieren.
In der Definition der Stetigkeit können verschiedene Bedingungen verletzt sein. Jede dieser Verletzungen führt zu einer Unstetigkeitsstelle. Für die nachfolgende Klassifikation nehmen wir an, dass die Funktion \(f\) in einer Umgebung des Punktes \(x_0\) definiert, jedoch nicht stetig an der Stelle \(x_0\) ist.
Hebbare Unstetigkeit
Eine Unstetigkeitsstelle heißt hebbar, falls die einseitigen Grenzwerte \(\lim\limits_{x \to x_0^-} f(x)\) und \(\lim\limits_{x \to x_0^+} f(x)\) existieren, endlich und gleich sein, jedoch nicht mit dem Wert \(f(x_0)\) übereinstimmen. Eine solche Funktion kann an der Unstetigkeitstelle so umdefiniert werden kann, dass sie stetig wird.
\[ \lim\limits_{x \to x_0} f(x) \neq f(x_0) \]
Im folgenden führen wir das an einem Beispiel aus:
Gegeben sei die folgende Funktion (der Graph ist auf der rechten Seite):
\[ f(x) = \left\{ \begin{array}{lr} x^2, & \text{für } x < 1\\ 0, & \text{für } x = 1\\ 2-x, & \text{für } x > 1 \end{array} \right. \]Es gilt:
\(\lim\limits_{x \to x_0^-} f(x)=1\) und \(\lim\limits_{x \to x_0^+} f(x)=1\)
Aber:
\[ \lim\limits_{x \to x_0} f(x) =1\neq 0= f(x_0) \]
Die Funktion \(f(x)\) hat an der Stelle \(x_0 = 1\) eine hebbare Unstetigkeit, da diese entsprechend umdefineirt werden kann. In unserem Fall genügt es, \(f(1)=1\) zu setzen um die Funktion \(f(x)\) stetig auf ganz \(\mathbb{R}\) zu machen.
Die abgeänderte Funktion hat dann folgende Vorschrift:
\[ f_{neu}(x) = \left\{ \begin{array}{lr} x^2, & \text{für } x<1\\ 1, & \text{für } x=1\\ 2-x, & \text{für } x>1 \end{array} \right. \]
Sprungstelle
Betrachten wir die Kostenfunktion \(C(t)\) für einen Parkplatz über die Zeitdauer \(t\). Wenn wir annehmen, dass das Parken für jede angefangene Stunde 2€ kostet, sieht der Funktionsgraph wie rechts dargestellt aus.
An ganzzahligen Stellen \(t=1\), \(t=2\), \(t=3\), ... tritt ein Sprung auf. Beispielsweise ergibt sich für \(t=1\):
\[ \lim\limits_{t \to 1^-} c(t) = 2 \neq 4 = \lim\limits_{t \to 1^+} c(t) \]Daher existiert der Grenzwert \(\lim\limits_{t \to 1} c(t)\) nicht und daher sind die Stetigkeitsbedingungen nicht erfüllt.
Um eine Unstetigkeitsstelle \(x_0\) als Sprungstelle zu identifizieren (Unstetigkeitsstelle erster Ordnung) müssen die beiden einseitigen Grenzwerte existieren und endlich sein, jedoch nicht gleich. An der Stelle \(x_0\) kann die Funktion einen beliebigen (reellen) Wert annehmen.
Polstellen und wesentliche Unstetigkeiten
Um die Bedingungen der Stetigkeit zu verletzen ist es möglich, dass ein einseitiger Grenzwert nicht existiert oder nicht endlich ist. Dazu betrachte wir die folgende Funktion \(g\):
\[ g(x) = \left. \begin{cases} \sin \frac{5}{x-1}, & \text{für } x < 1\\ 0, & \text{für } x = 1\\ \frac{1}{x-1}, & \text{für } x > 1 \end{cases} \right. \]Der linksseitige Grenzwert \(\lim\limits_{x \to 1^-} g(x)\) existiert nicht und der rechtsseitige Grenzwert \(\lim\limits_{x \to 1^+} g(x)\) ist nicht endlich. Daher liegt an der Stelle \(x_0 = 1\) linksseitig eine wesentliche Unstetigkeit und rechtsseitig eine Polstelle vor.

Übung 1.
Hat die Funktion \[f(x)=\frac{1}{2^{\frac{1}{x^2}}}\] mit \(\mathbb{D}_f=\mathbb{R}\backslash\{0\}\) eine hebbare Definitionslücke?
