Grundsätzliches zum Sozialrecht

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Buch: Grundsätzliches zum Sozialrecht
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Datum: Sonntag, 24. November 2024, 22:59

Beschreibung

In diesem ersten Kapitel sollen die Grundlagen des Sozialrechts dargestellt werden.

Ein kurzer Überblick und Einblick soll gegeben werden, um ein Grundverständnis für das breit gefächerte Rechtsgebiet sowie allgemeine Voraussetzungen für die nachfolgenden Lerneinheiten zu schaffen.

1. Grundlagen des Sozialrechts

Anfangs ist für ein allgemeines Grundverständnis zunächst zu klären, was das "Sozialrecht" überhaupt ist und was die Aufgaben dieses Rechtsgebiets sind.

Zudem stellt sich de Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen und der historischen Entwicklung dieses Rechtsgebiets.

Den einzelnen Punkten soll auf den folgenden Seiten nachgegangen werden.

Ebenfalls zur Schaffung eines Überblick dient folgende Tabelle, die die zeitliche Entwicklung der Sozialgesetzbücher zeigt. Es wird deutlich, dass der Gesetzgeber seit mittlerweile 30 Jahren an der Einheitlichkeit der Sozialgesetzbücher arbeitet. Auch wird deutlich, dass es immer neue Herausforderungen gibt, welchen man sich stellen muss (Beispiel: Einführung der Pflegeversicherung 1995).

Aufbau_SGB


1.1 Begriff des Sozialrechts

Was ist unter „Sozialrecht“ zu verstehen?

Grundsätzlich wird zwischen dem formellen und dem materiellen Sozialrechtsbegriff unterschieden.

Nach dem formellen Begriff umfasst das Sozialrecht das gesamte im Sozialgesetzbuch geregelte Recht.

Er beinhaltet die einzelnen Bücher des SGB sowie weitere Rechtsvorschriften, die über § 68 Abs. 1 SGB I bis zu ihrer Einordnung in das SGB als dessen besondere Teile gelten (d.h., sie werden als besonderer Teil fingiert).

Beispiele für die besonderen Teile sind das BAföG (Bundesausbildungsförderungsgesetz), die RVO (Reichsversicherungsordnung) oder das WoGG (Wohngeldgesetz).


Der materielle Sozialrechtsbegriff versucht, das Sozialrecht inhaltlich zu bestimmen.

Danach gehören all jene Normen zum Sozialrecht, die dazu dienen, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit herzustellen.

Diese weit gefassten Begriffe schließen auch andere Rechtsgebiete zum Teil mit ein, z.B. das Arbeits- oder Steuerrecht. Er muss damit dahingehend beschränkt werden, dass die Regeln primär und eigenständig auf soziale Gerechtigkeit und Sicherheit gerichtet sind. Da jedoch soziale Hilfsleistungen auch aus privater Hand erfolgen können, ist dabei zusätzlich zu beachten, dass auch nur Leistungen aus dem Bereich des öffentlichen Rechts erfasst werden.

 

Aber: Welchem Begriff ist nun zu folgen?

Problem beim materiellen Begriff ist, dass dieser nicht trennscharf ist und daher eine genauer Bestimmung dessen, was umfasst ist, schwierig sein kann. Lediglich eine Annäherung geschieht über § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I. 

Jedoch ist auch der formelle Begriff nicht unumstritten. Ihm wird entgegengehalten, dass er dynamische Veränderungen des Sozialstaates, die sich außerhalb des Sozialrechts ereignen, nicht erfasst. Auch wird vorgetragen, dass durch den formellen Begriff die Sicht auf den Gesamtzusammenhang des sozialen Rechts verloren geht.

Dennoch ist es für die praktische juristische Arbeit empfehlenswert, auf den formellen Sozialrechtsbegriff zurückzugreifen, da dieser das Sozialrecht klar umreißt.



1.2 Aufgaben des Sozialrechts

Der Gesetzgeber hat die Aufgaben des Sozialrechts in § 1 Abs. 1 SGB I klar umrissen. 

Das Sozialrecht soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. 

Ziel ist die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins, für alle Menschen gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit schaffen, Familien schützen und fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens abzuwenden und auszugleichen - durch Hilfe von außen oder durch Hilfe zur Selbsthilfe.

Soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit als zentrale Begriffe dieser Zielbestimmung stehen nebeneinander und in Wechselwirkung.

Inhaltlich werden beide Begriffe näher in § 1 Abs. 1 S. 2 SGB 1 und in den §§ 3 – 10 SGB I (lesenswert!) beschrieben.


Soziale Sicherheit

Soziale Sicherheit meint grundsätzlich die Möglichkeit der Lebensgestaltung in einer der Würde des Menschen entsprechenden Weise. 

Zusätzlich zur materiellen Existenzsicherung (insb. gemeint sind die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach SGB II und Sozialhilfe nach SGB XII - dazu in nachfolgenden Kapiteln) geht es dabei vor allem um die gesetzliche Sozialversicherung. Die einzelnen Bereiche dieser werden oft auch als die „fünf Säulen der Sozialversicherung“ beschrieben.

Die fünf Säulen der Sozialversicherung


Soziale Gerechtigkeit

Das Ziel sozialer Gerechtigkeit ist es, jedem Einzelnen in Staat und Gesellschaft die Chance zu geben, eine nach seinen individuellen Fähigkeiten entsprechende Stellung zu erlangen oder zu halten (vergleichen Sie dazu erneut §§ 3 bis 10 SGB I). § 2 Abs. 1 S. 2 SGB I setzt diesen Anspruchsgrundlagen jedoch Grenzen, insofern sie sich erst aus den besonderen Teilen des SGB ergeben.

Zentraler Punkt im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit ist damit Chancengleichheit. Dementsprechend dienen sozialrechtliche Vorschriften auf unterschiedliche Art und Weise der Gewährung von Chancengleichheit. Dies kann Bezug nehmen auf Menschen mit Behinderung (SGB IX), auf Menschen mit Kindern (BKGG, BEEG) oder aber auch Chancengleichheit von Opfern von Straftaten (OEG).






1.3 Verfassungsrechtliche Grundlagen

Wie bereits festgestellt, ist es Aufgabe des Sozialrechts, für soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu sorgen. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Dimension wird das Sozialrecht im Grundgesetz nur im Rahmen der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen ausdrücklich erwähnt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Grundgesetz die verfassungsrechtliche Bedeutung des Sozialrechts verneint, sondern lediglich, dass die grundgesetzlichen Regelungen mit Bezügen zum Sozialrecht dieses nicht ausdrücklich nennen. Sozialrechtliche Bezüge finden sich in den einzelnen Grundrechten (Art. 1 Abs. 1, 2, 3, 6, 12 GG) sowie im sich aus Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG ergebenden Sozialstaatsprinzip. 

Das Grundgesetz hat - anders als diverse Landesverfassungen und auch die Weimarer Reichsverfassung - auf das Formulieren sozialer Grundrechte verzichtet. Grund dafür war die Sichtweise, dass insbesondere soziale Grundrechte einem stetigen Wandel untelliegen und daher nicht auf die selbe Art und Weise wie andere Grundrechte dauerhaft festgesetzt werden können.

Als ganz wesentliche verfassungsrechtliche Grundlagen des Sozialrechts sind insbesondere zu nennen:

  • Art. 1 Abs. 1 GG
  • Art. 3 GG
  • Art. 20 Abs.1 GG, Art. 28 Abs. 1 GG


a. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG: Sozialstaatsprinzip

Das Sozialstaatsprinzip steht gleichberechtigt neben anderen Staatsprinzipien wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip. Es stellt ein Grundprinzip der deutschen Verfassung dar. Als solches unterliegt es der sog. Ewigkeitsklausel aus Art. 79 Abs. 3 GG und darf nicht aufgehoben werden.

Das Sozialstaatsprinzip verlangt vom Staat Regelungen und Mechanismen zur Vorsorge und Fürsorge für Einzelne oder für Gruppen der Gesellschaft zu schaffen, die aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung behindert sind.

Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber damit dazu, bei der Gesetzgebung die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit zu beachten und soziale Gegensätze auszugleichen. 

Auch wenn der Gesetzgeber an dieses Prinzip gebunden ist, ist beispielsweise die Sozialversicherung als solche nicht verfassungsrechtlich geschützt.


b. Art. 1 Abs. 1 GG: Menschenwürde

Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Damit ist der Staat verpflichtet, die Menschenwürde seiner Bürger zu schützen. Der Staat ist damit zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins, d.h. zur Sicherung des Existenzminimums verpflichtet.


c. Art. 3 Abs. 1 GG: Gleichheitssatz

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG besagt, dass es dem Staat grundsätzlich untersagt ist, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte wesentlich gleich zu behandeln.

Der Gleichheitssatz ist im Sozialrecht in unterschiedlichen Aspekten von Bedeutung. Dies reicht von dem Gebot der Gleichbehandlung über Chancengleichheit und Teilhaberechten bis hin zu Benachteiligungsverboten. 

Relevant sind insbesondere Fälle, in welchen Sozialleistungen an bestimmte Personengruppen vergeben werden, an andere hingegen nicht. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG kann in der Folge dazu führen, dass gesetzlich nicht leistungsberechtigte Personen dennoch Leistungsansprüche haben.



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4. Untergliederung des Sozialrechts

Eine Vielzahl von Gesetzestexten, die nicht nur in den SGB I bis XII zu finden sind, sowie zahlreiche untergesetzliche Normen wie Richtlinien und Verwaltungsvorschriften erschweren den Einblick in das Gebiet des Sozialrechts.

Es soll versucht werden, dieses große Gebiet etwas zu strukturieren.

Früher wurde das Sozialrecht unterteilt in drei Bereiche: Versorgung, Fürsorge und Sozialversicherung. Diese Unterteilung steht dabei in engem Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung des Sozialrechts und den Unterschieden bei der Finanzierung (Steuer- oder Beitragsfinanzierung).

  • Die Sozialversicherung ist dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Risiken wie Krankheit, Alter oder Unfall abgesichert werden und durch die Entrichtung von Beiträgen für den künftigen, in seiner Gesamtheit vorhersehbaren, Bedarf Vorsorge getroffen wird. Der Anspruch des Einzelnen entsteht dabei bei Eintritt des Versicherungsfalles unabhängig von der Bedürftigkeit des Einzelnen.
  • Versorgung meint nach der klassischen Auffassung staatliche, aus Steuern finanzierte Leistungen, die wegen besonderer Opfer des Einzelnen erbracht werden. Auch hier spielt eine tatsächliche Bedürftigkeit keine Rolle.
  • Fürsorge stellt demgegenüber einen veralteten Begriff für die Absicherung des Existenzminimums dar. Dieser aus Steuern finanzierte staatliche Beitrag erfolgt nur, wenn der Einzelne auch bedürftig ist. Sie ist nur subsidiär anwendbar, wenn alle Versuche der Fremd- oder Selbsthilfe, auch private Hilfsleistungen nicht erfolgen oder nicht ausreichend sind.


Diese klassische Dreiteilung passt auf neuere Gesetze nicht mehr. Das sind z.B. das Wohngeldrecht, Ausbildungsförderung oder der Familienlastenausgleich. Deshalb wurde eine neue Einteilung entwickelt. Es wird unterschieden zwischen Vorsorgesystemen, Entschädigungssystem und Ausgleichssystemen. Der Ausgleich erfolgt dabei durch Förderungen und Hilfen. Diese haben sich im Laufe der Zeit gegenüber dem „Ausgleich“ durchgesetzt. Die Systematik richtet sich dabei vornehmlich nach den Funktionen der entsprechenden Sozialleistung. Kurz gesagt: heute gibt es die Bereiche VorsorgeEntschädigung sowie Hilfe und Förderung.


a. Vorsorge

Die Vorsorge deckt sich im Wesentlichen mit den Sozialversicherungen nach der klassischen Einteilung.

Sozialversicherung

Die Sozialversicherung soll vor den allgemeinen Lebensrisiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, aber auch Arbeitslosigkeit schützen.

Wichtige Prinzipien der Sozialversicherung sind das Versicherungsprinzip sowie das Solidaritätsprinzip. Das System finanziert sich grundsätzlich über die Beiträge der Versicherten.


b. Entschädigung

Die Entschädigung dagegen dient der Sicherung gegen schädigende Ereignisse, gegen die eine Vorsorge nicht möglich ist und für die die Allgemeinheit einstehen muss. Dabei geht es nicht - wie in der Sozialversicherung - um allgemeine Lebensrisiken, sondern um einen Nachteilsausgleich, der durch die Übernahme besonderer Risiken entsteht.

Die Kosten für diese Entschädigung trägt die Allgemeinheit, d.h. die Leistungen sind steuerfinanziert.


c. Hilfe und Förderung

Die Leistungen im Rahmen der Hilfe und Förderung wiederum sollen besondere Belastungen oder Leistungsschwächen des Einzelnen ausgleichen. Das wären etwa Fälle, in denen der Einzelne die Miete nicht mehr erbringen kann und deshalb Wohngeld beziehen darf. Unter diese Kategorie fallen aber auch Ausbildungsbeihilfen und –förderungen, etwa um Chancengleichheit herzustellen. Dem Einzelnen soll auf diesem Weg die Möglichkeit gegeben werden, später selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.

Diese Leistungen setzen keine vorherige Mitgliedschaft in einem Sozialleistungssystem voraus, sie sind damit nicht durch von Mitgliedern getragene Beitragsleistungen finanziert, sondern werden durch die Allgemeinheit getragen (Steuerfinanzierung).



4.1 Übersicht zur Dreiteilung der Sozialen Sicherung

Dreiteilung_SozSicherung