Lerninhalt Besitzschutz I - Possessorischer Besitzschutz, §§ 861, 862 BGB

Website: WueCampus
Kurs: vhb - Grundkurs Sachenrecht - Demo
Buch: Lerninhalt Besitzschutz I - Possessorischer Besitzschutz, §§ 861, 862 BGB
Gedruckt von: Gast
Datum: Freitag, 22. November 2024, 16:12

Beschreibung

Lerninhalt Besitzschutz

Einleitung

Das BGB kennt im Rahmen des Besitzschutzes zwei Abwehransprüche des Besitzers zur Verteidigung der eigenen Besitzposition. § 861 BGB normiert einen Herausgabeanspruch im Falle einer Besitzentziehung und § 862 BGB einen Beseitigungsanspruch im Falle einer Besitzstörung. Diese so genannten possessorischen Ansprüche (§§ 861, 862 BGB) schützen den Besitzer unabhängig davon, ob dieser tatsächlich ein Recht zum Besitz hat. Geschützt wird so z.B. auch der Besitz des Diebes gegenüber Dritten oder sogar gegenüber dem Eigentümer. Entscheidend ist einzig, dass der Besitzer die tatsächliche Sachherrschaft über die Sache hat (§ 854 BGB). Dies ist der Fall, wenn der Besitzer die Möglichkeit hat auf die Sache einzuwirken oder andere von Einwirkungen auszuschließen. Für das Vorliegen einer derartigen Sachbeziehung ist es nicht notwendig, dass der Besitzer tatsächlich direkt auf die Sache einwirken kann. Es reicht vielmehr eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bzgl. der Sache seinen Willen durchsetzen zu können. Nach allgemeiner Ansicht gibt es durchaus Gewaltverhältnisse, bei denen eine Sachherrschaft i.S.v. § 854 BGB zu bejahen ist, obwohl zwischen dem Besitzer und der Sache eine gewisse Distanz besteht. Beispiele hierfür sind der Pflug auf dem Feld oder ein abgestellter PKW.

Problematisch ist, ob es zum Besitz eines Besitzbegründungswillens bedarf. Liegt ein Besitzerwerb i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB vor, also durch Erlangung der tatsächlichen Gewalt über eine Sache, so kann es durchaus vorkommen, dass derjenigen der die tatsächliche Gewalt von einem anderen erlangt, keinen Besitzbegründungswillen bzgl. der konkreten Sache hat. Ein Beispiel hierfür ist der Brief im Briefkasten. Der „Briefkasteninhaber“ weiß unter Umständen noch gar nicht, dass der Brief in seinem Briefkasten liegt, hat aber dennoch bereits den Besitz daran erlangt.

Unproblematisch ist der Besitzbegründungswille im Rahmen eines originären Besitzerwerbes. Der Finder einer Sache nimmt diese bewusst in Besitz und hat dabei einen Besitzbegründungswillen bzgl. der gefundenen Sache (Westermann/Staudinger, Rn. 31). Grundsätzlich lässt sich damit festhalten, dass der unmittelbare Besitz nicht von dem Bestehen eines konkreten Besitzbegründungswillens abhängt, es reicht vielmehr ein allgemeiner Besitzbegründungswillen bzgl. aller Sachen, die in den Herrschaftsbereich gelangen. Wann dies der Fall ist, richtet sich nach h.M. (Wellenhofer, § 4 Rn. 8) nach der allgemeinen Verkehrsanschauung.

Aufgrund der höheren Prüfungsrelevanz soll vertieft nur auf den Anspruch aus § 861 BGB eingegangen werden.

Literatur

Baur/Stürner: Sachenrecht, 18. Auflage, München 2009, S. 64 ff.

Lüke, Wolfgang: Sachenrecht, 4. Auflage, München 2018, Rn. 46 ff. (insb. 92 ff.)

Prütting, Hanns: Sachenrecht, 36. Auflage, München 2017, Rn. 43 -130 (insb. 107 ff.)

Schapp/Schur: Sachenrecht, 4. Auflage, München 2010, Rn. 40 ff. (insb. 72 ff.)

Schreiber, Klaus: Sachenrecht, 6. Auflage, Stuttgart 2015, Rn. 32 ff. (insb. 90 ff.)

Vieweg/Werner: Sachenrecht, 7. Auflage, Köln 2015, § 2 Rn. 1 ff. (insb. § 2 Rn. 49 ff.)

Wellenhofer: Sachenrecht, 32. Auflage, München 2017, § 4 Rn. 1 - § 5 Rn. 23 (insb. § 5 Rn. 1 ff.)

Westermann/Gursky/Eickmann: Sachenrecht, 8. Auflage, Heidelberg 2011, § 7 Rn. 1 - § 25 Rn. 7 (insb. § 20 Rn. 1 ff.)

Westermann/Staudinger: BGB-Sachenrecht, 13. Auflage, Heidelberg 2017, Rn. 26 ff.

Wieling, Hans-Josef: Sachenrecht, 5. Auflage, Heidelberg 2007, S. 43 - 84 (insb. S. 63 ff.)

Wilhelm, Jan: Sachenrecht, 5. Auflage, Berlin 2016, Rn. 435 ff. (insb. Rn. 514 ff.)


[1] Besitzschutz gem. § 861 BGB

Normtext

§ 861. Anspruch wegen Besitzentziehung.
(1) Wird der Besitz durch verbotene Eigenmacht dem Besitzer entzogen, so kann dieser die Wiedereinräumung des Besitzes von demjenigen verlangen, welcher ihm gegenüber fehlerhaft besitzt.
(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der entzogene Besitz dem gegenwärtigen Besitzer oder dessen Rechtsvorgänger gegenüber fehlerhaft war und in dem letzten Jahr vor der Entziehung erlangt worden ist.

§ 858. Verbotene Eigenmacht.
(1) Wer dem Besitzer ohne dessen Willen den Besitz entzieht oder ihn im Besitz stört, handelt, sofern nicht das Gesetz die Entziehung oder die Störung gestattet, widerrechtlich (verbotene Eigenmacht).
(2) Der durch verbotene Eigenmacht erlangte Besitz ist fehlerhaft. Die Fehlerhaftigkeit muss der Nachfolger im Besitz gegen sich gelten lassen, wenn er Erbe des Besitzers ist oder die Fehlerhaftigkeit des Besitzes seines Vorgängers bei dem Erwerbe kennt.

§ 863. Einwendungen des Entziehers oder Störers
Gegenüber den in den §§ 861, 862 bestimmten Ansprüchen kann ein Recht zum Besitz oder zur Vornahme der störenden Handlung nur zur Begründung der Behauptung geltend gemacht werden, dass die Entziehung oder die Störung des Besitzes nicht verbotene Eigenmacht sei.

§ 864. Erlöschen der Besitzansprüche
(1) Ein nach den §§ 861, 862 begründeter Anspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres nach der Verübung der verbotenen Eigenmacht, wenn nicht vorher der Anspruch im Wege der Klage geltend gemacht wird.

(2) Das Erlöschen tritt auch dann ein, wenn nach der Verübung der verbotenen Eigenmacht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt wird, dass dem Täter ein Recht an der Sache zusteht, vermöge dessen er die Herstellung eines seiner Handlungsweise entsprechenden Besitzstands verlangen kann.

Prüfungsschema

1. Besitz i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB
2. Besitzentzug durch verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 Abs. 1 BGB
3. Fehlerhafter Besitz des momentanen Besitzers gem. § 858 Abs. 2 BGB
4. Kein Ausschluss durch § 861 Abs. 2 BGB
5. Kein Ausschluss durch § 864 BGB
6. Unbeachtlichkeit petitorischer Einwendungen

Prüfungspunkte im Einzelnen

a. Besitz i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB
Anspruchsberechtigter ist der frühere Besitzer der Sache. Entscheidend hierfür ist, dass er die tatsächliche Sachherrschaft i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB an der Sache innehatte. Seine Berechtigung zum Besitz, bzw. das Vorliegen von Eigen- oder Fremdbesitz ist dabei unerheblich.

b. Besitzentzug durch verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 Abs. 1 BGB
Dem Besitzer muss die Sache durch verbotene Eigenmacht entzogen worden sein. § 858 Abs. 1 BGB enthält eine Legaldefinition der verbotenen Eigenmacht. So handelt widerrechtlich, wer dem Besitzer ohne dessen Willen den Besitz entzieht oder ihn im Besitz stört, sofern nicht das Gesetz die Entziehung oder die Störung gestattet. Für einen Anspruch aus § 861 Abs. 1 BGB relevante verbotene Eigenmacht liegt also vor, wenn dem unmittelbaren Besitzer ohne seinen Willen der Besitz an der Sache entzogen wird. Eine Besitzentziehung gegenüber einem bloß mittelbaren Besitzer unterfällt nicht § 858 Abs. 1 BGB. Aus dem Wortlaut des § 858 Abs. 1 BGB „ohne den Willen des Besitzers“ ergibt sich, dass der Besitzer zum Zeitpunkt der Besitzentziehung nicht notwendig konkreten Besitzwillen bzgl. der Sache haben muss (d.h. es schadet nicht, wenn der Besitzer gerade nicht an die Sache denkt). Zu beachten ist, dass grundsätzlich auch gegenüber rechtswidrig oder fehlerhaft Besitzenden verbotene Eigenmacht vorgenommen werden kann. Hat der Angreifer ein Recht zum Besitz an der Sache, so liegt dennoch eine rechtswidrige verbotene Eigenmacht vor.

Willigt der Besitzer in den Eingriff in seinen Besitz ein, so liegt kein Fall der verbotenen Eigenmacht vor. Ob zur Einwilligung Geschäftsfähigkeit erforderlich ist oder natürliche Willensfähigkeit ausreicht ist umstritten (Wieling, S. 62; Baur-Stürner, § 9 Rn. 5; Prütting, Rn. 109). Die h.M. geht davon aus, dass es zur Einwilligung nicht der Geschäftsfähigkeit bedarf, da diese kein Rechtsgeschäft darstellt (Wieling, S. 62; Soergel/Stadler, § 858 Rn. 9; Westermann/Gursky/Eickmann, § 21 Rn. 4; a.A. Baur-Stürner, § 9 Rn. 5; Prütting, Rn. 109). Aufgrund des Schutzrahmens des § 858 Abs. 1 BGB kann die Einwilligung nur vom unmittelbaren Besitzer erfolgen. Daher wirkt die Einwilligung eines Besitzdieners (§ 855 BGB) oder eines mittelbaren Besitzers (§ 868 BGB) nicht rechtfertigend.

Eine nachträgliche Genehmigung des Eingriffs beseitigt die Fehlerhaftigkeit des durch die verbotene Eigenmacht erlangten Besitzes und ist zugleich ein Verzicht auf die Besitzschutzansprüche aus §§ 861, 862 BGB.

c. Fehlerhafter Besitz des momentanen Besitzers gem. § 858 Abs. 2 BGB
Besitz ist fehlerhaft, wenn der momentane Besitzer diesen durch verbotene Eigenmacht erlangt hat (§ 858 Abs. 2 S. 1 BGB) oder wenn er die Fehlerhaftigkeit gem. § 858 Abs. 2 S. 2 BGB gegen sich gelten lassen muss. Das ist der Fall, wenn der Besitzer Erbe eines fehlerhaften Besitzers ist oder wenn er bei Erwerb des Besitzes dessen Fehlerhaftigkeit kennt.

d. Kein Ausschluss durch § 861 Abs. 2 BGB
Der Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes ist gem. § 861 Abs. 2 BGB ausgeschlossen, wenn der Besitz dem gegenwärtigen Besitzer gegenüber fehlerhaft war und in dem letzten Jahre vor der Entziehung erlangt worden ist. Hat der ehemalige Besitzer seinerseits den Besitz durch verbotene Eigenmacht erlangt oder besitzt er sonst fehlerhaft und hat er diesen Besitz im letzten Jahr erlangt, so ist ein Anspruch aus § 861 Abs. 1 BGB ausgeschlossen. Hierdurch wird verhindert, dass derjenige der selbst verbotene Eigenmacht ausübt, gegenüber dem aus § 861 Abs. 1 BGB Berechtigten vorgeht.


e. Kein Ausschluss durch § 864 BGB
Der Anspruch aus § 861 Abs. 1 BGB erlischt gem. § 864 Abs. 1 BGB mit dem Ablauf eines Jahres nach Verübung der verbotenen Eigenmacht, wenn nicht vorher der Anspruch im Wege der Klage geltend gemacht wurde. Es handelt sich hierbei um eine Ausschlussfrist (Vieweg/Werner, § 2 Rn. 61). Das Interesse des bisherigen Besitzers, die früheren Besitzverhältnisse wiederherzustellen ist nach Ablauf dieser Frist nicht mehr schutzwürdig (Wellenhofer, § 5 Rn. 12). Der Anspruch erlischt nach § 864 Abs. 2 BGB auch dann, wenn durch rechtskräftiges Urteil festgestellt wurde, dass dem Täter ein Recht an der Sache zusteht. Dies gilt entsprechend dem Wortlaut des § 864 Abs. 2 BGB nur dann, wenn die verbotene Eigenmacht vor dem Urteil verübt wurde, nicht im Anschluss an dieses (Wellenhofer, § 5 Rn. 12; a.A. RGZ 107, 258).

f. Unbeachtlichkeit petitorischer Einwendungen
Petitorische Ansprüche folgen aus dem Recht zum Besitz (Wellenhofer, § 5 Rn. 1). Nach § 863 BGB kann gegenüber einem Anspruch aus § 861 BGB ein Recht zum Besitz oder zur Vornahme der störenden Handlung nur zur Begründung der Behauptung geltend gemacht werden, dass die Entziehung oder die Störung des Besitzes nicht verbotene Eigenmacht sei. Dies bedeutet, dass schuld- oder sachenrechtliche Einwendungen bei einem Anspruch aus § 861 BGB unberücksichtigt bleiben müssen, da dieser auf die rasche, vorläufige Wiederherstellung der früheren Besitzlage gerichtet ist (Wellenhofer, § 5 Rn. 13). Petitorische Ansprüche haben hingegen zum Ziel, die Rechtslage endgültig zu regeln (Vieweg/Werner, § 2 Rn. 62).

[2] Besitzschutz gem. § 862 BGB

Normtext

§ 862. Anspruch wegen Besitzstörung.
(1)Wird der Besitzer durch verbotene Eigenmacht im Besitz gestört, so kann er von dem Störer die Beseitigung der Störung verlangen.
Sind weitere Störungen zu besorgen, so kann der Besitzer auf Unterlassen klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Besitzer dem Störer oder dessen Rechtsvorgänger gegenüber fehlerhaft besitzt und der Besitz in dem letzten Jahr vor der Störung erlangt worden ist.

Prüfungsschema

1. Besitz i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB
2. Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 Abs. 1 BGB
3. Ggf. Bevorstehen weiterer Störungen i.S.v. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB
4. Kein Ausschluss durch § 862 Abs. 2 BGB
5. Kein Ausschluss durch § 864 BGB
6. Unbeachtlichkeit petitorischer Einwendungen

Prüfungspunkte im Einzelnen

a. Besitz i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB
Anspruchsberechtigter ist nur der unmittelbare Besitzer der Sache. Entscheidend hierfür ist, dass er die tatsächliche Sachherrschaft i.S.v. § 854 Abs. 1 BGB an der Sache innehat. Seine Berechtigung zum Besitz, bzw. das Vorliegen von Eigen- oder Fremdbesitz (Von Fremdbesitz spricht man, wenn der Besitzer für einen anderen besitzt), ist dabei unerheblich.

b. Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 Abs. 1 BGB
Besitzstörung ist jegliches Einwirken auf den Besitzer, das dazu führt, dass dieser nicht mehr die Möglichkeit hat, frei mit seinem Besitz zu verfahren. Eine solche Störung liegt häufig in Form einer körperlichen Einwirkung auf die Sache vor (z.B. Überbau, Befahren, Betreten). Denkbar ist aber auch eine Besitzstörung durch psychische Eingriffe (z.B. das Bestreiten des Besitzes (strittig, hierzu: Prütting, Rn. 109; a.A. Wieling, S. 66) oder Drohung). Ebenfalls umfasst sind Störungen, die zwar noch nicht eingetreten sind, aber mit Sicherheit zu erwarten sind. Typisches Beispiel hierfür ist, dass auf einem Grundstück eine Ausgrabung gemacht wird, durch die die Gefahr von Beschädigungen am Nachbarhaus entsteht.

c. Ggf. Bevorstehen weiterer Störungen i.S.v. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB
Gem. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB steht dem Besitzer ein Unterlassungsanspruch zu, wenn weitere Störungen zu befürchten sind. Entscheidend hierbei ist, dass Tatsachen vorliegen aufgrund derer der Eintritt weiterer Störungen wahrscheinlich sind. Die bloße Möglichkeit weiterer Störungen reicht nicht.

d. Kein Ausschluss durch § 862 Abs. 2 BGB
Der Anspruch auf Beseitigung der Besitzstörung ist gem. § 862 Abs. 2 BGB ausgeschlossen, wenn der Besitz dem Störer oder dessen Rechtsvorgänger gegenüber fehlerhaft war und in dem letzten Jahre vor der Entziehung erlangt worden ist. Hierdurch soll, wie schon im Rahmen des § 861 BGB verhindert werden, dass demjenigen, der selbst verbotene Eigenmacht ausübt, gegenüber dem aus § 861 Abs. 1 BGB Berechtigten ein Anspruch zusteht.
 

e. Kein Ausschluss durch § 864 BGB
Die im Rahmen des Anspruchs aus § 861 BGB gemachten Ausführungen gelten entsprechend.

f. Unbeachtlichkeit petitorischer Einwendungen
Auch hier gelten die im Rahmen des Anspruchs aus § 861 BGB gemachten Ausführungen entsprechend.