Gegenstandsbestimmung, Abgrenzung, Definitionen, Ziele, Rahmenbedingungen, wissenschaftstheoretische Grundlagen
3. Arten, Ziele, Strategien und Modelle der Diagnostik
3.1 Ziele der Diagnostik
Das in der PPD meist diskutierte Gegensatzpaar bezeichnet zwei grundlegende Zielsetzungen von Diagnostik: Selektion und Modifikation. Selektionsdiagnostik wird dazu verwendet, Personen oder Bedingungen auszuwählen. Bei der Personenselektion geht es meist darum, Personen zu identifizieren, die für bestimmte Dinge geeignet sind, z.B. eine Schulart, Studienplätze oder Stellen. Im einfachsten Fall wird dazu ein einzelnes Merkmal und eine Grenze festgelegt, bei deren Überschreitung der Merkmalsträger als geeignet betrachtet wird. Denkbar sind aber auch Vorgehensweisen, bei denen mehrere Merkmale, ggf. auch in abgestufter (sequentieller) Form herangezogen werden. Da es sich bei den Dingen, für die Personen ausgewählt werden oft um knappe und begehrte Ressourcen handelt, wurde die Selektionsdiagnostik immer wieder infrage gestellt. Man kann sich beispielsweise fragen, inwieweit es sinnvoll ist, den Zugang zu einem Medizinstudium allein von der Abiturnote abhängig zu machen. Weniger umstritten ist die Bedingungsselektion, bei der die erhobenen Merkmale dazu verwendet werden, für die Merkmalsträger geeignete Bedingungen auszuwählen, etwa wenn Vortest-Ergebnisse in einer Übungssoftware dazu herangezogen werden, für die Übenden geeignete Aufgaben auszuwählen.
Das Ziel bei der Modifikationsdiagnostik besteht darin, geeignete Maßnahmen zu finden, um beim Merkmalsträger eine Verhaltensänderung herbei zu führen. Auch hier kann wieder bei der Person angesetzt werden (Verhaltensmodifikation) oder an den äußeren Bedingungen (Bedingungsmodifikation). So ist es etwa bei der Behandlung von Lese- und Rechtschreib-schwächen wichtig, herauszufinden, welchen Entwicklungsstand die betroffenen Kinder erreicht haben.
Rein formal lassen sich Modifikationsdiagnostik und Selektionsdiagnostik kaum trennen, weil beide dazu dienen, Entscheidungen auf eine rationale Basis zu stellen, und Entscheidungen formal in der Auswahl einer Option aus mehreren möglichen Optionen bestehen. (Um dies nachzuvollziehen, vergleichen Sie bitte Bedingungsselektion und Bedingungsmodifikation!). Der Unterschied besteht eher in der Bewertung der Zielsetzungen: hier die auf den einzelnen Menschen bezogene Fürsorge, die das Bestmögliche für diesen Menschen anstrebt (Modifikationsdiagnostik) und dort die kalte, anonyme Auswahl aufgrund eines einzelnen Kriteriums, bei der die meisten Betroffenen leer ausgehen (Selektionsdiagnostik).
Tabelle 1.1: Kriterien für die Diagnostik unter unterschiedlichen Zielsetzungen (in Anlehnung an Ingenkamp & Lissmann, 2005) |
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Selektionsdiagnostik (Gesellschaftlich geforderte Qualifikationen) |
Modifikationsdiagnostik (Optimierung des Lehr- und Lernprozesses) |
Gesellschaftlicher Konsens über Zielkriterien notwendig |
Gruppeninterner Konsens über Zielkriterien reicht aus |
Seltene Diagnose reicht aus |
Häufige Diagnose erwünscht |
Erfassung überdauernder Merkmale notwendig |
Erfassung situationsabhängiger Merkmale sinnvoll |
Überregionale Vergleichbarkeit der Messergebnisse notwendig |
Gruppeninterne Vergleichbarkeit reicht oft aus |
Langfristige Prognose erwünscht |
Kurzfristige Prognose reicht aus |
Geringe Beachtung der Lernbedingungen erforderlich |
Hohe Beachtung der Lernbedingungen notwendig |
Ingenkamp und Lissmann (2005) weisen darauf hin, dass es in pädagogischen Kontexten kaum reine Selektionsdiagnostik gibt, da selbst die umstrittene Auswahl oder Zuweisung von Schüler/innen zu den verschiedenen Schularten mit der Absicht verbunden ist, die unterschiedlichen Menschen in der jeweiligen Schulart besser fördern zu können. Konkrete diagnostische Aktivitäten sind nach Auffassung dieser Autoren jeweils zwischen zwei Extrempolen angesiedelt, die auf der einen Seite durch Gruppenbezug und organisatorische Verfestigung (Selektion) und auf der anderen Seite durch individuellen Bezug und organisatorische Flexibilität (Modifikation) gekennzeichnet sind.
Bedeutsam ist die Unterscheidung von Selektionsdiagnostik und Modifikationsdiagnostik für Ihr Rollenverständnis als Lehrerin oder Lehrer, da beide Ziele zu Ihren Berufsaufgaben gehören. Die von Lehrkräften erteilten Zensuren haben faktisch eine selektive Funktion und werden in vielen Fällen auch dazu führen, dass Schüler von Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Dieser Aspekt der Lehrerrolle ist bei vielen an Schule Beteiligten unbeliebt und kann am besten ins Rollenbild integriert werden, wenn er mit großer Sorgfalt und gerecht ausgefüllt wird. Hierbei ist die Einhaltung diagnostischer Gütekriterien wie Objektivität oder Messgenauigkeit besonders wichtig. Andererseits wird es auch Ihre Aufgabe sein, Schüler/innen bestmöglich zu fördern und dazu ist es nötig, deren Lernvoraussetzungen zu diagnostizieren. Es wäre zu wünschen, dass die in diesem Zusammenhang erfassten Leistungen nicht in die Zeugnisnote eingingen (also nicht zur Personenselektion herangezogen würden), was in der Praxis oft schwer umzusetzen ist.
Die beiden Pole diagnostischer Ziele sind auch mit unterschiedlichen Anforderungen an die Messung verbunden (s. Tabelle 1.1). Bei der Selektionsdiagnostik ist ein gesellschaftlicher Konsens über die Zielkriterien nötig, die Messergebnisse sollen überregional vergleichbar sein und es sollen überdauernde Merkmale gemessen werden (Ingenkamp & Lissmann, 2005). All diese Dinge sind für die Modifikationsdiagnostik nicht so bedeutsam. Aus diesen Gründen gibt es in manchen Ländern (z.B. Großbritannien) eine institutionalisierte Trennung der diagnostischen Funktionen: Lehrer/innen sind für die Modifikationsdiagnostik zuständig und externe Prüfungsorganisationen für die Selektionsdiagnostik.