Grundlagen der anwendungsbezogenen Hochschulmathematik

7. Gewöhnliche Differentialgleichungen

7.4. Exkurs: Coronamodellierung

Die Corona-Pandemie begann im Dezember 2019 in Wuhan, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Hubei, und verbreitete sich von dort im Januar 2020 rasch in die ganze Welt aus. Da gegen das neuartige Virus SARS-CoV-2 kein Impfstoff bekannt war, wurde der Ausbreitung, Fallzahl, Krankheitsverläufen und Gegenmaßnahmen medial viel Aufmerksamkeit entgegengebracht und im Zuge dessen verschiedene Studien und mathematische Modelle diskutiert. Ein vielzitierter Leitspruch lautete „flatten the curve“, häufig kombiniert mit der Warnung vor dem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) nennt allgemein die wichtigen Fragen, die Wissenschaftler möglichst schnell beantworten müssen, wenn irgendwo auf der Welt ein neuer Erreger auftritt:

„Wo liegt der Ursprungsort des neuen Erregers? Wo werden die nächsten Krankheitsfälle auftreten und wann? Und wieviele Menschen werden voraussichtlich infiziert? Schnelle Antworten auf diese Fragen sind notwendig, um durch Gegenmaßnahmen die weitere Verbreitung möglichst wirksam zu bekämpfen und potenziell verheerende Folgen zu vermeiden.“ (RKI, aufgerufen am 17.06.2020)

Die Situation ist hinreichend komplex, um verschiedene kleinere Problemstellungen in verschiedenen mathematischen Teilgebieten zu ermöglichen. Die Frage nach dem Ort der nächsten Krankheitsfälle ist eher geometrisch und spürt den Verkehrswegen und Vernetzungen der modernen Welt nach. Für die Beantwortung der Frage, wie viele Menschen sich mit dem Virus infizieren werden, können verschiedene Annahmen getroffen werden, die relativ leichte Modellierungen ermöglichen.

Modellierung mit einem SIR-Modell

Die Ausbreitung von Krankheiten wird im einfachsten Fall mit einem SIR-Modell modelliert. Dabei werden in einer Population drei verschiedene Gruppen als Zahlenwerte / Funktionswerte betrachtet und die Zusammenhänge der Veränderungen untersucht.

S: „susceptible“ – Darunter werden die Personen verstanden, die überhaupt krankt werden können, d.h. anfällig für die Krankheit sind. Eine bereits infizierte, immune oder verstorbene Person fällt aus dieser Gruppe heraus.

I: „infected“ – Darunter werden alle Personen gezählt, die zum jeweils betrachteten Zeitpunkt mit der Krankheit infiziert sind.

R: „removed“ – Darunter werden die Personen gezählt, die als aus dem Infektionsgeschehen entfernt angesehen werden können, d.h. genesene Personen, die – so eine einfache Modellannahme – auch eine Immunität gegen die Krankheit entwickelt haben, oder verstorbene Personen.

Die Veränderungen dieser Zahlenwerte hängt von der (Basis)Reproduktionszahl \( \beta \) und der Genesungsrate \( \gamma \) ab. Die Reproduktionszahl \( \beta \) gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt jeweils abrnsteckt. In der Genesungsrate sind in unserem Modell genesene und verstorbene Personen zusammengefasst. Sie gibt an, wie viele infizierte Personen im Durchschnitt genesen/versterben.

Die Anzahl S ändert sich nur durch die neu infizierten Personen. Änderungsraten können wir durch Ableitungen mathematisch fassen, also für S' folgende Formel aufstellen: \( S'(t) = -\beta \cdot S(t) \cdot I(t) \). Die Anzahl der Infizierten I wird durch die Ansteckung von noch nicht infizierten Personen größer und durch die Genesung kleiner, also ergibt sich: \( I'(t) = \beta \cdot S(t) \cdot I(t) - \gamma\cdot I(t) \). Für R' ergibt sich aus der letzten Gleichung \( R'(t) = \gamma \cdot I(t) \).

Diese drei Differentialgleichungen lassen sich für passende Anfangswerte z.B. mit GeoGebra lösen und untersuchen. Das Video zeigt, wie das gehen kann. Wir haben die Parameter als Schieberegler dynamisch mit einbezogen, damit auch deren Einfluss untersucht werden kann, etwa um die Hintergründe und Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen und Mund-Nasen-Masken zu untersuchen.

Das hier dargestellte Modell stellt eine sehr einfach Variante dar, die mit nur zwei Faktoren auskommt und eine Menge Annahmen macht, die der Realität teilweise nicht gerecht werden:

  • Jedes Individuum kann nur einmal infiziert werden.
  • Infizierte sind sofort ansteckend, eine Inkubationszeit wird nicht abgebildet.
  • Reproduktionszahl und Genesungsrate sind konstant.
  • Es wird keine Unterscheidung getroffen zwischen genesenen und verstorbenen Personen, der allerdings in der Realität enorm wichtig ist.

Aufgabe: Erstellen Sie eine GeoGebra-Simulation wie im Video gezeigt. Ergänzen Sie dann eine Sterblichkeitsrate (lethality rate) als Schieberegler und die Zahl D der Verstorbenen („deceased“).