Grundlagen der anwendungsbezogenen Hochschulmathematik

5. Differentialrechnung

5.5. Exkurs: Anwendungsbeispiel

In unserer von Wirtschaftlichkeit und Effizienz geprägten Welt sind Optimierungen überall zu finden: Prozessoptimierungen in der Fertigung, Optimierung von Lieferungen im Bereich der Logistik, Optimierung der Auslastung von Arbeitskräften, Verbesserungen der Flächenausnutzung etc. Viele Beispiele sind für den normalen Schulunterricht zu komplex oder haben einen zu großen Zeitbedarf, so dass sie primär an Projekttagen oder in Projektwochen angegangen werden können.

Ein traditionsreiches Beispiel aus dem Unterricht stellt die Optimierung einer offenen Schachtel hinsichtlich eines möglichst großen Volumens dar, die aus einem DIN-A4-Karton hergestellt werden soll.

Zunächst vereinfachen wir die Situation folgendermaßen: Die Stärke des Kartons und damit zusammenhängende Schwierigkeiten beim Falten vernachlässigen wir. Ebenso betrachten wir nicht die verschiedenen Möglichkeiten, wie die Schachtel stabil verklebt werden soll. Uns geht es erst einmal nur um das Volumen.

Der Karton ist zunächst rechteckig. Durch das Abschneiden quadratischer Stücke der Seitenlänge h an den Ecken erhalten wir das Netz einer offenen, quaderförmigen Schachtel.

Für das Volumen dieser Schachtel stellen wir folgende Formel auf:

Seitenlängen des Kartons: \(a\), \(b\)

Volumen der offenen Schachtel: \( V(h)=h\cdot (a-2h)\cdot (b-2h)= 4 \cdot h^3 -2 \cdot a \cdot h^2 - 2 \cdot b \cdot h^2 + a\cdot b \cdot h \)

Die Grafik zeigt den Graphen dieser Funktion im relevanten Abschnitt, in dem das Maximum gesucht wird. Variabel sind hier die Werte der Schieberegler für die Seitenlängen a und b (für DIN-A4: a=21; b= 29,7). Außerdem kann die Höhe h dadurch eingestellt werden, dass der mit h bezeichnete Punkt auf der x-Achse bewegt wird. Das Volumen an der Stelle h verändert sich mit der Veränderung der Höhe passend.
Durch Ausprobieren mit Hilfe eines Schiebereglers nähern wir das maximale Volumen bei 678,7 cm³ für eine Höhe von 1,71 cm an. Rechnerisch ergibt sich der Wert über das Bestimmen der Ableitung der Funktion V nach der betrachteten Höhe h (die man im Unterricht natürlich auch x nennen kann) zu 1,75 cm und eine Volumen von 678,74 cm³.

Anstatt experimentell mit GeoGebra nach einem Maximum zu suchen, bietet es sich auch an, mit Hilfe von Ableitungen das Maximum zu bestimmen. Später kann dieses Verfahren auf weitere Optimierungsprobleme angewendet werden, deren Extrema anders kaum zu bestimmen sind.

Für die Volumensfunktion der offenen Schachtel

\[ V(h)=h\cdot (a-2h)\cdot (b-2h)=4 \cdot h^3 -2 \cdot a \cdot h^2 - 2 \cdot b \cdot h^2 + a\cdot b \cdot h \]

erhalten wir als Ableitung: \[ V'(h)=12 h^2 -4ah-4bh+ab \]

Für die Werte eines DIN-A4-Blatts a = 210 und b = 297 (Einheit mm) erhalten wir \[ V(h)=h\cdot (210-2h)\cdot (297-2h)=(-4h)^3-4h^2+(210+297)h+62370 \] bzw. \[ V'(h)=12 h^2 +62370-4\cdot 210 \cdot h-4 \cdot 297\cdot h \] Als Lösungen der Gleichung \[ V'(h) = 0 \] erhalten wir mit einem CAS die Lösungsmenge \[ L = \{40,42; 128,58\} \]

Nur der erste, kleinere Wert ist eine sinnvolle Lösung, da der zweite Wert die Hälfte der kürzeren Seitenlänge eines DIN-A4-Blattes übersteigt.

An die sehr einfache Modellierung der offenen Schachtel lässt sich gut ein etwas komplexeres Beispiel anschließen: Die Milch- bzw. Safttüte. Aus dem Supermarkt kennt man normalerweise verschiedene Formen von Saftverpackungen in beschichteten Kartons, etwa die Giebeldachsafttüte, die in ihren Grundformen jeweils quaderförmig sind. Das Ziel könnte hier sein, diejeningen Abmessungen zu finden, für die eine 1-Liter-Safttüte möglichst wenig Material verbraucht.
Die einfachste Modellierung

Für die erste, einfachste Modellierung nehmen wir an, dass der Quader eine quadratische Grundfläche besitzen und einen Liter Volumen fassen soll.

Das Volumen des Körpers berechnet sich so: \( V \ = \ A \cdot h \ = \ b^2 \cdot h \) , wobei A die Grundfläche bzw. b die Breite und h die Höhe der Tüte bezeichnet.

In der Funktion für die Oberfläche sind die Variablen Breite b und Höhe h enthalten. Durch die Nebenbedingung, dass das Volumen 1 Liter betragen soll, ergibt sich der Zusammenhang zwischen Höhe und Breite zu: \( h \ = \ \frac{V}{b^2} \).

Setzen wir dies in die Oberflächenfunktion ein, so erhalten wir eine Funktion, die nur von einer Variablen abhängt.

\( O(b) \ = \ 2\cdot b^2 + 4 \cdot b \cdot \frac{V}{b^2} \ = \ 2 \cdot b^2 + 4 \cdot \frac{V}{b} \)

Ableiten der Funktion ergibt:

\( O'(b) \ = \ 4 \cdot b - 4 \cdot \frac{V}{b^2} \)

Damit können wir die Extremwerte bestimmen:

\( O'(b) \ = \ 4 \cdot b - 4 \cdot \frac{V}{b^2} \ = \ 0 \)

\( b \ = \ \sqrt[3]{V} \)

Für das Volumen von 1000 cm³ ergibt sich eine Breite von:

\( b \ = \ \sqrt[3]{1000 cm^3} \ = \ 10 \ cm \)

Überprüfen wir nun noch, ob es sich tatsächlich um ein Minimum handelt. Dafür muss die zweite Ableitung an der Stelle des Extremwerts positiv sein.

\( O''(b) \ = \ 4 + 8 \cdot \frac{V}{b^3} \)

Da dies für b = 10 cm der Fall ist, handelt es sich hier um ein Minimum. Für die Höhe der Milchtüte ergibt sich \( h \ = \ \frac{1000 \ cm^3}{(10 \ cm)^2} \ = \ 10 \ cm \)

Die nach dieser Modellierung hergestellte Tüte wäre also würfelförmig mit Kantenlänge 10 cm. Die dafür benötigte Materialfläche wäre \( O(10) \ = \ 2 \cdot 10^2 + 4 \cdot \frac{1000}{10} \ = \ 600 \ cm^2 \) .

Welche Gründe sprechen dafür, dass eine Verpackung so hergestellt wird?
  • Die Oberfläche der Verpackung und damit der Materialverbrauch ist minimal.
  • Die Packung ist sehr gut stapelbar.

Welche Gründe sprechen dagegen, dass eine Verpackung so hergestellt wird?

  • In der Modellierung wurden keine Klebelaschen berücksichtig. Aus Pappe ließe sich so ein Karton also nur sehr schwer herstellen.
  • Bisher haben wir keinerlei Öffnung vorgesehen.
  • Ein Würfel mit Kantenlänge 10 cm ist unhandlich und nur schlecht mit einer Hand zu greifen.
  • Durch die randvolle Befüllung ist dosiertes Ausschenken schwierig.
  • Eine Optimierung des Schnittmusters auf Massenfertigung wurde nicht untersucht.

Fazit: Es ist nicht sinnvoll, nur den Materialverbrauch zu optimieren, da für ein reales Produkt auch andere Faktoren eine Rolle spielen.

Eine zweite Modellierung

Für die zweite Modellierung drehen wir die Richtung einmal um und starten mit der Untersuchung einer echten Giebeldachtüte.

Die Abbildung zeigt das Netz aus Karton, aus dem die Safttüte gefaltet wird, und eine handelsübliche Giebeldachtüte, allerdings mit einem Schraubverschluss für das Ausgießen. In unserer Modellierung werden wir den Schraubverschluss nicht berücksichtigen.

Eine Safttüte ist im Normalfall bis zur Höhe des quaderförmigen Teils der 1-Liter–Safttüte gefüllt. Daher geben wir die Funktion für den Materialverbrauch in Abhängigkeit der Breite a (Seitenlänge der quadratischen Grundfläche) und der Höhe h des quaderförmigen Teils einer Safttüte an.

Im Netz sehen wir in der Mitte vier lange Rechtecke für die Seitenflächen mit Flächeninhalt \( A \ = \ a \cdot h \). Darunter vier kleinere Rechtecke mit Flächeninhalt \( A \ = \ a \cdot \frac{a}{2} \) , die zusammengefaltet den quadratischen Boden der Tüte bilden. Die Rechtecke oben im Netz bilden nach dem Zusammenfalten das Giebeldach. Ihr Flächeninhalt beläuft sich auf \( A \ = \ a \cdot \frac{a}{\sqrt{3}} \). Die restlichen Rechtecke an den unteren, linken und oberen Rändern sind die Klebeflächen mit den originalen Abmessungen.

Neben diesen genutzten Flächen gehört zum Materialverbrauch auch noch die nicht benötigten, ausgestanzten Flächen, die das Netz zu einem großen, aber möglichst kleinen Rechteck ergänzen.

Die Abmessungen für das Giebeldach haben wir einfach angegeben, aber natürlich sind diese nicht a priori klar, sondern müssen bestimmt werden. Dazu betrachten wir die verklebte Tüte von der Seite und bestimmen die nötigen Größen.

Der spitze Basiswinkel des in Grün eingezeichneten, gleichschenkligen Dreiecks beträgt etwa 30°. Daraus ergibt sich:
\( \cos(\alpha) \ = \ \frac{\frac{a}{2}}{L} \ \rightarrow \ L \ = \ \frac{\frac{a}{2}}{\cos(30°)} \ = \ \frac{a}{\sqrt{3}} \)

Das obige Netz für die 1 l – Safttüte wird aus einer Papierrolle ausgestanzt. Aus einer Papierrolle will man möglichst viele Netze und damit Safttüten ausstanzen können. Dies wird erreicht, indem man die Netze aneinander anliegen lässt. Dabei entstehen sowohl zwischen den oberen als auch zwischen den unteren Klebefalzen Stanzabfälle. Diese tragen ebenfalls zum Materialverbrauch bei und müssen bei der Berechnung des Materialverbrauches berücksichtigt werden. Um den Materialverbrauch zu bestimmen, ergänzt man das Netz zu einem Rechteck, welches minimale Fläche besitzt und das Netz komplett umschließt, und berechnet dessen Fläche. Die Abmessungen ergeben sich durch die maximale Länge und Breite des Netzes der 1 l – Safttüte. Man muss also noch die Länge des Klebefalzstreifens oben sowie die Länge der kleinen Klebefalzaufsätze oben und den größten unteren Klebeaufsatz und die Breite des Klebefalzstreifens links am realen Netz abmessen. Die Maße dafür haben wir bereits in das Netz eingetragen.

Der Materialverbrauch - hier als vorläufige Funktion \( \tilde{M} \) bezeichnet - ergibt sich also wie folgt:
\( \tilde{M}(a, h) \ = \ B \cdot L \)
\( \tilde{M}(a, h) \ = \ (1,0 \ \text{cm} \ + \ 4 \cdot a)\cdot (1,4 \ \text{cm} \ + \ \frac{a}{2} \ + \ h \ + \ \frac{a}{\sqrt{3}} + 1,0 \ \text{cm} \ + \ 0,7 \ \text{cm} ) \)

Die Funktion \( \tilde{M} \) hängt also von zwei Variablen - a und h - ab und gilt unter der Annahme, dass die Klebefalze für beliebige (realistische) Größen immer die gleichen Abmessungen haben, für beliebige Höhe und Breite. Für die tatsächliche 1-Liter-Safttüte gilt, dass diese im quaderförmigen Teil ein Volumen von 1000 cm³ haben, also die Gleichung \( V \ = \ a^2 \cdot h \ = \ 1000 \text{cm³} \) gelten soll. Wie in der ersten Modellierung lösen wir diese Gleichung nach h auf und setzen diese in M ein. Damit erhalten wir eine Materialfunktion, die nur von der Variablen a abhängt.

Bei einer handelsüblichen Safttüte lauten die Abmessungen: a = 7 cm und h = 19,5 cm. Damit ergibt sich ein theoretisches Volumen von nur \( V \ = \ 7^2 \cdot 19,5 = 955,5 \ [\text{cm³}] \). Dafür sieht man an einer gefüllten Safttüte, dass die Seitenflächen sich etwas nach außen wölben und nicht exakt einen Quader bilden. Außerdem ermöglicht das Giebeldach ebenfalls einen kleinen Teil des noch fehlenden Volumens aufzunehmen (allerdings nur bis zur Unterkante der Ausgießöffnung, damit nach dem Öffnen nicht sofort ein Teil des Safts ausläuft). Ohne dies genauer zu untersuchen, gehen wir davon aus, dass durch den Wölbungseffekt die fehlenden 44,5 cm³ Volumen in der Safttüte untergebracht werden können und kein Betrug vorliegt.

Wir berücksichtigen den Wölbungseffekt, indem wir das Volumen für den quaderförmigen Teil auf 955,5 cm³ reduzieren, aber weiterhin eine mathematisch exakte Quaderform betrachten. Die endgültige Materialfunktion lautet nun:
\( \begin{align} M(a) \ & = \ (1,0 \ \text{cm} \ + \ 4 \cdot a)\cdot \\ & \cdot (1,4 \ \text{cm} + \ \frac{a}{2} \ + \ \frac{955,5 \text{cm³}}{a^2} + \ \frac{a}{\sqrt{3}} + 1,0 \ \text{cm} \ + \ 0,7 \ \text{cm} ) \end{align} \)
\( \begin{align} M(a) \ & = \ (12,9 \ \text{cm} \ + \ 1 \ \text{cm} \cdot \frac{1}{\sqrt{3}} )\cdot a \ + \ ( \frac{4}{\sqrt{3}} \ + \ 2)\cdot a^2 \ + \\ & + \ 4 \cdot \frac{955,5 \text{cm³}}{a} \ + \ 1 \ \text{cm} \cdot \frac{955,5 \text{cm³}}{a^2} \ + \ 3,1 \ \text{cm} ) \end{align} \)
Analog zur ersten Modellierung könnten wir zu dieser Funktion die erste und zweite Ableitung bestimmen, um ein Extremum zu finden und dieses darauf zu prüfen, ob es ein Minimum ist. Wir verzichten hier darauf und untersuchen die Funktion stattdessen dynamisch mit einer GeoGebra-Simulation. Die Komplexität der Funktion deutet schon an, dass es nicht so leicht ist, mit Standardverfahren Nullstellen der Ableitung zu bestimmen und daher sowieso numerische Näherungsverfahren und der Einsatz von Computern nötig sind.

Die Genauigkeit ist hier für die Seitenlänge a auf eine Nachkommastelle eingestellt. Bei einer Stanzgenauigkeit von 0,1 cm in der realen Situation genügt diese Genauigkeit. Aus der Simulation erhalten wir einen minimalen Materialverbrauch von 873,7 cm² bei einer Seitenlänge von 7,3 cm der quadratischen Grundfläche. Daraus resultiert die zugehörige Höhe von 17,9 cm.

Im Vergleich mit einer echten Giebeldachtüte stellt man fest, dass diese eine Seitenlänge von nur 7 cm hat, die Höhe beträgt 19,5 cm und der Materialverbrauch 874,1 cm². Damit kann die reale Safttüte unter den Herstellungsbedingungen als materialminimal angesehen werden kann.